4. Oktober 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Neurowissenschaftlich fundiertes Grundlagenwerk

REZENSION: Gerhard Roth / Alica Ryba – Coaching, Beratung und Gehirn. Klett-Cotta 2016.

Unsere klassischen, tradierten Vorstellungen vom Funktionieren der Psyche – wie wir sie aus der Psychoanalyse oder auch aus der Verhaltenstherapie kennen – wurden durch enorme Fortschritte in der neurobiologischen Forschung der letzten beiden Jahrzehnte radikal in Frage gestellt. Das hat sich zwar hier und da schon herum gesprochen, doch darf man getrost daran zweifeln, dass die Erkenntnisse auch in der nötigen Breite und Tiefe angekommen sind – und entsprechende Konsequenzen zeitigen konnten.


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Das hat natürlich Gründe. So bedarf es sicher einer gewissen mentalen Anstrengung, sich up to date zu halten. Die Theorie-Praxis-Kluft scheint insbesondere in der unregulierten Coaching-Szene nicht unerheblich zu sein. Daher kommt dieses Buch gerade richtig. Der Anspruch der Autoren ist, das erste neurowissenschaftlich fundierte Grundlagenwerk für Coaching vorzulegen. Dem Anspruch wird dieses Buch durchaus gerecht, wiewohl damit nicht in Abrede gestellt werden soll, dass neurowissenschaftliche Grundlagen inzwischen Eingang in zahlreiche Publikationen zum Thema Coaching gefunden haben. Insbesondere sei auf das Zürcher Ressourcen Modell von Krause und Storch verwiesen, dessen Rezeption im Buch von Roth und Ryba erstaunlicherweise vermisst wird.

Ein Grundlagenwerk

So liegt der Wert dieses Buchs insbesondere in seiner breiten Perspektive, liest es sich in weiten Strecken doch wie ein Grundlagenwerk zur Allgemeinen Psychologie, dem dann Ableitungen für die Coaching-Praxis angehangen werden – wobei die Tiefe eines Lehrbuchs, welches bspw. Anderson vorlegt, nicht erreicht wird. So findet die Leserschaft nach einem Kapitel zum menschlichen Gehirn und seinen Funktionen weitere zu den Themenkomplexen Persönlichkeit, Lernen und Gedächtnis, dem (Un-/Vor-)Bewussten, Motivation sowie Bindung vor. Bezeichnenderweise schließen all diese Kapitel mit einem „Was sagt uns das alles?“-Abschnitt.

Das mag manchen zu moralisch daher kommen, anderen schlicht nicht weit genug gehen. Eingerahmt wird dieses Konvolut zu Beginn durch zwei Einleitungskapitel. Das erste Kapitel beansprucht, einen Überblick zum Thema Coaching zu liefern: Zielgruppen, Praxisfelder, Anlässe und Themen, Coaching-Varianten sowie theoretische Grundorientierungen im Coaching und Coaching-Ansätze (nach psychotherapeutischen Schulen sortiert). Für eine erste Orientierung mag das reichen. Wer sich umfassender informieren will, wird nicht umhin kommen, weitere Quellen wie Fachbücher oder Veröffentlichungen von Verbänden zu konsultieren.

Coaching und Psychotherapie

Es folgt dann als zweites Kapitel eine Gegenüberstellung von Coaching und Psychotherapie. Hier werden fünf Argumente, die eine Grenzziehung versuchen, diskutiert – und insgesamt als unzureichend verworfen. Die Autoren kommen zum nachvollziehbaren Schluss, dass von einem Kontinuum mit einer Schnittmenge auszugehen ist. Als eine Konsequenz wird die notwendige Verankerung von psychotherapeutischem Wissen in Coaching-Weiterbildung gefordert. Dem mag man sich gerne anschließen.

Zwei größere Buchabschnitte zu Freud und der Psychoanalyse (Kap. 9) sowie zu Erickson und der Hypnotherapie (Kap. 10) folgen auf den allgemeinpsychologischen, zirka 150 Seiten umfassenden Teil. Hier mag man zunächst stutzen, dekonstruieren die Autoren doch die Psychoanalyse in den Ausführungen zuvor als mit den Erkenntnissen der modernen Neurobiologie in weiten Teilen inkompatibel. An der Verhaltenstherapie, auch der kognitiv orientierten, kritisieren sie, dass das Versprechen, Fehlkonditionierungen löschen zu können, nicht einzulösen ist. Dass psychodynamische Ansätze als auch die Hypnotherapie hier herausgehoben werden, liegt folglich daran, dass beide Ansätze Wege aufzeigen, an das Vorbewusste heranzukommen. Das ist klar die Crux dieses Buchs.

Keine Veränderung ohne das limbische System

Und nach einem elften Kapitel über Wirkung von Psychotherapie und Coaching – hier werden die Arbeiten Klaus Grawes und Siegfried Greifs dargelegt – folgt das abschließende zwölfte Kapitel, das die bisherigen Ausführungen zusammenfasst und ein eigenes Modell vorstellt. Alle psychischen Prozesse laufen demnach auf vier Ebenen, drei limbischen und einer kognitiven Ebene ab. Das ganze klassische gute Zureden und Appellieren an die Einsicht des Klienten zielt eben nur auf die kognitive Ebene. Damit sich etwas verändern kann, müssen aber die limbischen Ebenen angesprochen werden. Hier kommen wieder die psychodynamischen und hypnotherapeutischen Ansätze in den Blick.

Doch mit alten Hüten der Psychoanalyse oder quadratisch-praktisch-guten Vereinfachungen aus der NLP-Szene geben sich die Autoren erst gar nicht ab. Sie identifizieren auf der Basis der neurobiologischen Forschung sechs psychoneurale Grundsysteme der Persönlichkeit: Es sind dies das Stressverarbeitungssystem, das Beruhigungssystem, das Bewertungssystem, das Impulshemmungssystem, das Bindungssystem sowie das des Realitätssinns und das der Risikowahrnehmung.

6 psychoneurale Grundsysteme

Wie mag nun die Leserschaft von diesem Buch profitieren? Die zahlreichen Quereinsteiger im Coaching-Feld finden hier geballtes Wissen, das ihnen helfen mag, ihre manchmal hemdsärmeligen und naiven Vorstellungen von Veränderungsarbeit zu korrigieren und sich auf ein höheres Level zu orientieren. Letzteres wird aber nur in Weiterbildungen gelingen, das sollte nach Lektüre dieses Buchs selbstverständlich erscheinen.

Veränderungsagenten mit einer professionellen, aber schon länger nicht mehr wirklich upgedateten Basis insbesondere neurowissenschaftlichen Zuschnitts, bekommen hier wertvolle neue Erkenntnisse, die zu eigenständiger Weiterarbeit animieren können. Akademisch ausgebildete Psychologen, die in den letzten 15 Jahren studiert haben, finden vermutlich wenig grundsätzlich Neues vor. Die Lektüre der Kapitelzusammenfassungen sowie des letzten Kapitels mag Coaching-Profis anregen, den Quervergleich zu anderen einschlägigen Publikationen zu ziehen. So wird man dann einen hohen Grad der Übereinstimmung feststellen mit dem Hypnosystemischen Ansatz von Gunter Schmidt, den Forschungen von Maja Storch zum Embodiment und weiteren. Was dann auch wieder irgendwie beruhigend wäre – auf einem höheren Level, versteht sich.

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