KRITIK: Da hat mal jemand so richtig auf den Putz gehauen und es der Branche gezeigt. Die Betonung der Mitarbeiterseite würde sich in einer Steigerungsspirale befinden: Immer mehr Achtsamkeit, Wertschätzung und Sinnstiftung mündet in „die Anmaßung moralischer Überlegenheit und die Ausblendung weiterer Wirklichkeiten“ (PE und OE sollten nicht zu hoch fliegen).
Martin Claßen plädiert dafür, mal wieder tief Luft zu holen „und damit zur Räson zu kommen“. Ihm geht diese ständige Berieselung mit den ewig gleichen Argumenten wie „Im Business läuft immer mehr falsch“ und „Wir Menschen brauchen eigentlich etwas Besseres“, was darin gipfelt, dass ja „längst klar ist, wie es richtig geht“, gegen den Strich. Und mit richtig ist zum Beispiel gemeint, dass ohne Partizipation nichts mehr geht und die Hierarchie ein Modell von gestern ist. Das hätte schon so etwas von „Erlösungsfantasien“, ihre Prediger bilden eine Art Bekenntnisgemeinschaften mit sektenartigen Organisationen. Sie verwenden „sprituell-mystische Erzählmuster“, als da wären „hundertprozentige Humanität“, „emotionale Sicherheit“ oder „I love mindfulness“.
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Schall und Rauch
Und dann kriegen auch noch die internen Personalentwickler ihr Fett weg, die auf Konferenzen und in sozialen Netzwerken „sehr laut mit ihrer People-Story“ tönen und dann intern, „wenn es um die Big Points bei Entscheidungen geht“, den Mund nicht aufkriegen.
So schimpft Herr Claßen drei Seiten lang über die Vertreter, die „individuelle Wertschätzung weit über die ökonomische Wertschöpfung“ stellen und warnt davor, dass es das Business aber gar nicht mag, „mit moralinsauren Argumenten bedrängt oder als Ewiggestrige geschmäht“ zu werden. Letzteres kann ich nachvollziehen – wer mag schon moralinsaure Argumente? Aber ich frage mich, wer denn „das Business“ ist?
Wohlfeile Kritik – mit dicker Lippe
Da sind sie wieder, die Forderungen der Berater, dass Personaler viel mehr vom Geschäft her denken, sich in die Sprache der Manager hineinversetzen, sich mit den Geschäftszahlen beschäftigen und mit dem Management auf Augenhöhe verhandeln müssen. Was genau soll das sein? Auch das findet sich in dem Essay: Manager beschäftigen sich natürlich mit den Interessen der Mitarbeiter, aber mehr noch mit denen der Kunden und der Eigner. Und das sollte man bitteschön nicht anstößig finden.
Damit der Personaler sich nicht zu sehr in den Idealen der Mitarbeiterorientierung, dem Sinn, der Partizipation und der Wertschätzung verliert, empfiehlt der Autor, sich aus der eigenen Komfortzone zu bewegen, das Milieu zu verlassen und die Wirklichkeit kennen zu lernen. Außerdem sollte man sich offene und ehrliche Freunde suchen, die einem nicht nach dem Mund reden. Und regelmäßig unbequeme Medien sichten, die auch andere Meinungen vertreten. Auch sehr nützlich: Die Interessen und Logiken des Gegenübers einnehmen (gemeint ist wohl das „Business“), sich von falschen Freunden und „dunklen Akteuren“ fernhalten, auf Empörungsreflexe ebenso wie auf Drama und Emotion verzichten.
Warnung vor zu viel Wertschätzung und Partizipation
All das würde niemandem schaden, täte aber ebenso jeder Führungskraft, Manager, Berater, Trainer und Coach gut. Schon klar: Es ist nicht schlau, einem Management, das auf Zahlen und Ergebnisse schaut, allzu sehr unter die Nase zu reiben, dass es ab sofort nur noch den Mitarbeitern dienen soll. Und es ist auch nicht geschickt, überall aufzutreten und damit anzugeben, wie mitarbeiterorientiert es im eigenen Unternehmen zugeht und nun alle mitentscheiden dürfen. Das kann schnell nach hinten losgehen, wenn man dann hinter die Kulissen schaut.
Aber dass tatsächlich vor zu viel Wertschätzung und Partizipation gewarnt wird aus Sorge, dass der Kunde und der Eigner zu kurz kommen, ist schon witzig. Bisher habe ich stets als eines der wichtigsten Argumente für mehr Selbstorganisation und Partizipation gehört, dass es immer auch darum geht, Kundenwünsche zügiger zu bearbeiten – wenn das nicht gelingt, dürfte es ohnehin rasch vorbei sein mit der „People Story“. Und dass die Eigner zu kurz kommen, die Sorge hätte ich am allerwenigsten. Wer an Einfluss und Macht verliert, ist das Management, und das hat lange genug mit dem Argument, dass man schließlich die Verantwortung für das „Business“ trage, Unsinn angestellt.