KRITIK: Seit vielen Jahren schon hören wir die Predigt von der Notwendigkeit der Ambidextrie im Unternehmen. Damit ist nicht ein neuer Traubenzucker, sondern die sogenannte Beidhändigkeit in der Führung oder ein doppeltes „Betriebssystem“ gemeint. Denn Unternehmen stecken in einem grundsätzlichen Dilemma:
Exploitation: Je mehr man sein Geschäft auf Effizienz trimmt, desto profitabler wird es. Was allerdings einen Nachteil produziert: Wie im Tunnelblick kümmert man sich nur noch um die Exploitation, sieht also weder rechts noch links, und kümmert sich vielleicht noch um inkrementelle Verbesserungen an der Cash Cow, aber nicht um wirkliche Innovationen. Wenn man nicht aufpasst, wird man eines schönen Morgens wach und die Konkurrenz hat einen disruptiv in Siebenmeilenstiefeln links oder rechts überholt – und abgehängt. So wie Apple seinerzeit Nokia.
Exploration: Je mehr man sich um neue Ideen kümmert, desto mehr Geld verbrennt man. Denn vieles mag zwar gut gemeint sein, funktioniert dann aber schlussendlich doch nicht. Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehend springt man von einer Idee zur nächsten und schafft es nicht, eine profitable Innovation am Markt zu platzieren. Wenn man nicht aufpasst, wird man eines schönen Morgens wach und ein finanzkräftiger Investor hat einen schulterklopfend aufgekauft, nimmt die guten Ideen mit und schickt die Daniel Düsentriebs in die Wüste. So erging es schon manchem Start-up.
Ein Dilemma
Was tun? Autor Christian Schwedler (Ambidextrie in der Praxis) präsentiert der Leserschaft die altbekannte Frage „Wie soll eine Organisationsstruktur aussehen, die eine Gleichzeitigkeit von Exploit und Explore zulässt und fördert?“ Und er liefert die ebenfalls nicht neuen Antworten gleich mit:
Kontextuelle Ambidextrie: Man integriert Exploration situativ in die Struktur des Kerngeschäfts. Die Mitarbeiterinnen sollen einmal „Six Sigma“-Qualität liefern und dann bei der nächsten Gelegenheit vor Kreativität nur so sprühen. Die Kritik: Das können nur eierlegende Wollmilchsäue, aber nicht normale Mitarbeiter. Und selbst wenn sie es wollten, es fehlt ihnen an speziellem Know-how, an Skills und vermutlich bekommen sich die unterschiedlich gestrickten Mitarbeiter auch nicht selten in die Wolle.
Strukturelle Ambidextrie: Man lagert Exploration aus in ein Spin-off, am besten auf die grüne Wiese, wo die „Spinner“ unter sich sind und sich agil austoben können. Kritik: Wenn es dann irgendwann um die Skalierung eines Hoffnungsträgers geht, fehlen die Exploitation-Kompetenzen der Rechtsabteilung, des Controllings und von HR – und nicht zuletzt die finanziellen Mittel.
Eingebettete Unternehmerteams: Als Ausweg aus dem Dilemma, das sich hier getreu dem Werteentwicklungsquadrat von Schulz von Thun übertreibend aufgebläht hat, wird dann gerne der Mittelweg vorgeschlagen: Man appelliert an die Vernunft und den guten Willen der Beteiligten und integriert beide getrennten Ansätze unter ein gemeinsames (Holding-)Dach. Kritik: Worin besteht der Unterschied zur klassischen F&E-Abteilung (funktionale Organisation)? Reicht es, sich zu wünschen, dass zwischen Exploration und Exploitation dann „nur noch“ gut balanciert werden muss? „Wenn Explore-Funktionen unter dem Dach der Mutterorganisation laufen, führen die Widersprüchlichkeiten zwischen den Aufbaufeldern und dem Kerngeschäft zwangsläufig zu Spannungen und konkurrierenden Zielsetzungen,“ räumt auch Autor Schwedler ein. Vor allem wenn es um „die Wurst“, vulgo um Ressourcen geht. Doch der Autor ist überzeugt, solche Spielchen laufen nur auf der Middle-Manager-Ebene. Auf dem C-Level stünde man über solchen Dingen. Ambidextrie als im doppelten Sinne Königsweg.
Wenn es doch nur so einfach wäre
Ich glaube, hier redet sich der Autor sich und seiner Leserschaft die Welt arg schön. Er garniert seine Botschaft nach Harvard-Manier noch mit ein paar Fallbeispielen und schon ist das Leben gar nicht mehr so schwer. Und wenn sich später jemand beklagt, dann fallen ihm bestimmt genügend Schuldige ein: Abgesehen von den allgemeinen auch noch die spezifischen Umstände, dann die Top-Führungskräfte, die doch noch nicht so weit waren wie sie sollten und deshalb auch gehen mussten, sowie die Mitarbeiter mit den zwei linken Händen.
Ok, jetzt mal ernsthaft: Warum fällt einem Autor nach so vielen Jahren der Diskussion um Ambidextrie nicht mehr ein? Wie wäre es statt der Dilemma-Perspektive (entweder Exploitation oder Exploration) mit einer Tetralemma-Betrachtung? Wenn die dritte, die Sowohl-Als-auch-Variante leicht in ein Lose-Lose führt, könnte der vierte, Weder-noch-Fall vielleicht zu einem Win-Win führen? Dazu müsste man sich aber von der Vorstellung lösen, dass es Schuldige gibt, die das Geschäft vermasseln. Angemessener wäre eine rollentheoretische Betrachtung der Mitarbeiter als Interessenträger. Eigentlich auch keine neue Erkenntnis: Streit zwischen Innen- und Außendienst, zwischen Produktion und Marketing etc. sind doch Legende. Das Dilemma für eine Seite zu entscheiden oder einen faulen Kompromiss zu wählen, hat solche Probleme selten gelöst.
Metaebene
Vielleicht sollte man auch eine fünfte Position austesten und auf die Metaebene kraxeln, um die Funktionen der einzelnen Positionen zu verstehen. Und dass es um den gemeinsamen Erfolg im Unternehmen gehen muss. Daher sollten die Mitarbeiter ihre Rollen reflektieren und auch durch Rollentausch lernen, die anderen zu verstehen. Hier kann man recht kreativ ansetzen, beispielsweise mit DeBonos 6-Hüte-Methode oder dem Sounding Board (Lautes Denken fördern). So eröffnen sich konkrete Handlungsoptionen.
Eines muss man Autor Schwedler allerdings noch zugutehalten: Er verweist auf kontraproduktive Anreizsysteme (Gesundheitsschädlich). Doch bin ich mir sicher, darauf kommen die ihre Rollen reflektierenden Mitarbeiter auch ganz schnell.