INSPIRATION: Zwei Personalpsychologen streiten um Grundlagen. Das ist spannend, weil es um „des Pudels Kern“ geht. Und um die Frage, ob Personalentscheider Mr. Spock nacheifern müssen. Oder Erdlinge bleiben dürfen.
Der Befund ist nicht neu: Bei der Güte der Personalauswahl ist noch Luft nach oben – sagen die Eignungsdiagnostiker. Personaler, Geschäftsführerinnen, Betriebsräte und Führungskräfte entscheiden oft nach impliziten Kriterien wie Attraktivität, statt (besser!) nach sachlichen. Es wird aber auch explizit unsachlich entschieden – beispielsweise nach Parteibuch. All das ist gar nicht gut, lehrt die Personalpsychologie schon seit Langem. Und nicht nur wegen der Compliance (Legal Footprint). Seit über 20 Jahren gibt es sogar eine Norm für die Eignungsdiagnostik, die DIN 33430, die zeigt, wie man professionell vorgeht.
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Doch so richtig überzeugen ließ sich die Masse der Personaleinstellenden offenbar nicht von der Norm, offenbart ein Interview, dass ich vor einigen Monaten mit einem der Initiatoren der Norm geführt habe. Autor Uwe Kanning hat immer wieder den warnenden Zeigefinger erhoben und auf Professionalisierung gedrungen. Personalerinnen konnten das mitunter nervig und belehrend finden. Jetzt trumpfte Autor Jürgen Deters, seines Zeichens ebenfalls ein Personalpsychologie-Experte, vor ein paar Monaten mit einer Veröffentlichung auf, in der er eine Lanze für die Intuition in der Personalauswahl bricht. Und Autor Uwe Kanning reagiert im vorliegenden Interview mit dem Personalmagazin (Analytik mit Gefühl) verschnupft. Ich präsentiere einmal die Positionen der beiden Experten, weil sie auch für die Praktikerinnen und Praktiker spannende Einsichten eröffnen.
Kanning – der Rationalist
Personalauswahl ist für Uwe Kanning weiterhin unterprofessionalisiert. Intuition ist für ihn eher „so ein mystischer Begriff“. Sich darauf allein zu verlassen, wäre fahrlässig. Denn mit Intuition würde man sich, im Gegensatz zur Vernunft, wieder all die impliziten Vorurteile und Stereotypen einhandeln, die einzelne Kandidat:innen diskriminieren und die Personalauswahl insgesamt schlechter machen würden. Attraktivität und ähnliches würde durch Beurteilungsfehler triumphieren gegenüber wirklicher Kompetenz. Ein Lob der Intuition, wie vom Kollegen Jürgen Deters vertreten, ist für Kanning Gift. Sie ist für ihn klar ein Problem – und keine Lösung. Intuition, so lautet seine Antwort, muss gegenüber strukturierten Interviews die Segel streichen.
Deters – der Aufgeklärte
Intuition ist für ihn eine Kompetenz. Sie sei gefühltes Wissen. Werte, Haltung, Passung – all das erschließe sich über Intuition. Das spreche überhaupt nicht gegen die übliche professionelle Diagnostik. Es ergänze diese aber substanziell. Praktiker*innen wüssten das und nutzten sie. Auch im Innovationsmanagement und an anderen Stellen. Rationalität sei begrenzt. Die neurowissenschaftliche Forschung habe dies inzwischen deutlich unterstrichen. Intuition in die „Schmuddelecke des Irrationalen“ zu verweisen, hält er für völlig falsch. Es brauche eine „reflektierte Intuition“. Und Offenheit. Er verweist – einerseits – auf die Achtsamkeitspraxis und andererseits auf Immanuel Kant, den Vater der philosophischen Aufklärung, der sich gegen eine überzogene Rationalität ausgesprochen hat. „Die Intuition ist da und will genutzt werden. Es ist ein Erkenntnisweg.“
Grundsätzliche Unterschiede
Wie soll man nun die Kontroverse bewerten? Eines ist klar, beide Protagonisten wollen eine gute Personalauswahl in Unternehmen. Da gibt es gar keinen Dissens. Aber der Streit dreht sich um Grundlegendes. Tritt man ein paar Schritte zurück, zeigt sich, dass Kanning ganz in der Cartesianischen Tradition steht. Sein Ideal ist die perfekte Personalauswahl durch Rationalität. Leider tun ihm die Praktiker:innen den Gefallen nicht. Sie sind – wie alle Menschen – vor Beurteilungsfehlern nicht gefeit. Was ihn offensichtlich schon lange zu wurmen scheint. Und man kann sie nicht aus der Welt schaffen, nur minimieren, die Fehler: durch Beobachterschulungen, durch Beobachtervielfalt und rotierende Beobachterpositionen. Doch was, wenn dieser Idealismus das Problem wäre?
Und da kämen wir mit dem Aufklärungsphilosophen Kant, den Autor Deters zitiert, in der Tat einen großen Schritt weiter. Derzeit läuft in der Bonner Bundeskunsthalle eine sehr interessante Kant-Ausstellung. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, die philosophische Kompetenz ist in der Psychologie leider nicht allzu ausgeprägt. Die wissenschaftstheoretische Grundlage passt meines Erachtens auf eine Handtuchbreite. Und das ist ein Tabu. Denn der wissenschaftspsychologische Mainstream hat sich seit einigen Dekaden auf ein schmales Verständnis eingeschossen und verteidigt das mit Macht. Vielleicht ist das ja einer der Gründe dafür, dass Deters sein Buch erst kurz vor der Emeritierung veröffentlicht hat?
Ich gebe mal ein kleines Beispiel für mein Unbehagen: Auf einer Tagung, die ich gerade besuchte, wurden in einer Studie die Ebenen Individuum, Team und Organisation unterschieden. Solches erscheint offensichtlich völlig normal. Wie auch die Argumentation mit Reifegraden. Wenn das allerdings wissenschaftlich sein soll … will ich genau vorgeführt bekommen, wo genau die Grenze verläuft. Und da dürfte dann sicher ein Hase-und-Igel-Spiel draus werden. Denn das Individuum – an und für sich – so wie es Descartes postuliert hat, das gibt es offensichtlich nicht. Seine Trennung von Geist und Körper ist ebenso fatal. Und geistert immer noch durch die Lande – wie auch die Wissenschaft. Noch Jahrhunderte nach seinem Tod. Mit verheerenden Konsequenzen – wie wir nicht nur beim Thema Personalauswahl sehen können. Als ob wir es nicht inzwischen besser wissen (müssten). Aber wir können es uns nicht leisten, mit solchen schrägen, veralteten Konzepten zu operieren.
Reduktionismus
Ich springe einmal ein paar Jährchen in der Geschichte und erweitere die Perspektive drastisch. In seinem Buch „Das Individuum und seine Welt“ hat Hans Thomae schon Ende der 1960er-Jahre die Faktorenanalyse, sozusagen das Herzstück der modernen Persönlichkeitspsychologie, in der Luft zerrissen. Daniel Kahneman bekam vor 20 Jahren den Nobelpreis für die Erkenntnis, dass Menschen in der Regel nach Heuristiken, also nach Daumenregeln, Entscheidungen treffen.
Und wie argumentiert Uwe Kanning? Meines Erachtens immer noch mit dem Homo Oeconomicus, dem rationalen Entscheider (Mr. Spock). Der ist – spätestens – seit der Forschung Kahnemans klinisch tot. Ich gebe zu, meine Argumentation könnte man noch „tiefer legen“, aber ich schreibe hier ja kein Buch wie Herr Deters.
Zeit für einen Neuansatz
Die kognitive Wende in der Psychologie in den 1970er-Jahren war absolut wichtig. Der plumpe „Ratten“-Behaviorismus musste sich zwischen Reiz und Reaktion mit der sogenannten Organismusvariablen auseinandersetzen: mit Denken, mit Motivation, mit Sprache … Doch die in den 1990er-Jahren sich ereignende emotionale Wende in der Psychologie scheint noch nicht überall angekommen zu sein. Descartes irrte, sagt der Neurowissenschaftler António Damásio. Emotionen sind die Basis. Am Stichwort Embodiment (Die Rückkehr der Gefühle) kommen wir heute nicht mehr vorbei. Etliche renommierte Autoritäten haben inzwischen bahnbrechende Forschungen und Veröffentlichungen vorgelegt. Luc Ciompi hat schon seit den 1980er-Jahren unter dem Begriff der Affektlogik eine umfassende Theorie zum Zusammenwirken von Fühlen und Denken vorgelegt (Die emotionalen Grundlagen des Denkens). Gerhard Roth und andere haben ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell für die Beratung vorgelegt (Neuowissenschaftliche Fundierung von Coaching). Maja Storch und andere haben das rationalistische Rubikonmodell zum Rubikonprozess erweitert (Ganzheitliches Selbstmanagement). Und jetzt die Frage: Ist davon nichts in der Eignungsdiagnostik angekommen? Ich bekenne, es scheint mir entgangen zu sein. Bis ich jetzt die Argumente von Autor Jürgen Deters las.
Aufklärung
Das Projekt der Philosophischen Aufklärung mag nun schon ein wenig in die Jahre gekommen sein. Und es gab auch fundamentale Kritik – die mir übrigens in der Bonner Ausstellung zu Kant gefehlt hat: Adorno und Horkheimers Dialektik der Aufklärung. Nun, wir sind heute, 80 Jahre später schon wieder einen Schritt weiter. Und es wird nicht der letzte Schritt auf dem Weg der Erkenntniserweiterung gewesen sein. Ich schätze Uwe Kanning für die Fülle seiner Arbeiten und Erkenntnisse – und auch dafür, dass er sich gegen die wissenschaftliche Kollegenschaft positioniert, die offenbar nur noch in einer mathematischen Parallelwelt lebt (Inkompetenzkompensationskompetenz). Ob diese mit der wirklichen Wirklichkeit noch zurechtkommt und diese bereichern kann, ist eine ernsthafte Frage. Der vor einigen Jahren verstorbene Nestor der deutschen Wirtschaftspsychologie, Lutz von Rosenstiel, brachte in diesem Zusammenhang die Hypothese der Steuerverschwendung ins Spiel.
Ich denke, die Kluft zwischen den Stühlen wird immer breiter. Da wird man sich irgendwann für eine Seite entscheiden müssen (Zwei menschliche „Betriebssysteme“?). Für mich wäre die Sache klar: Es wird Zeit für eine neue Metatheorie. Diese wird die Kluft, die sich zwischen diesen Autoren aufgetan hat, überbrücken. Ich freue mich schon darauf.
Die Probleme liegen ganz woanders: Viele Eignungs-/Test-Verfahren, die Firmen teuer einkaufen, entsprechen nicht der aktuellen Forschung, da keine Mehrgruppenvergleiche vorliegen für (vulnerable) Bevölkerungsgruppen u.a. Geschlecht, Sprachfamilie der Muttersprache, Ethnie, Herkunftskultur der Eltern, Religionen und viele andere soziodemographische Attribute. Faktorielle Validität über viele Kulturen liegt, wenn überhaupt geprüft selten vor. das gilt auch für Big5 und teilweise sogar dessen Nachfolger, die genau wegen des Versagens von Big5 an dieser Stelle entstanden sind.
Zurück zur Messinvarianz: Wenn es verschiedene Mittelwerte für diese Gruppen gibt, sind die Verfahren nicht messinvariant auf einem Mindestlevel. Da hilft auch DIN33430 und dessen Zertifikate bei den Dienstleistern gar nix. Es ist nicht diversitätsgerecht.
Es hilft auch nix Verhaltensbeobachtungstrainings durchzuführen, für die kaum Erfolgsbelege oder gar Implementierungsforschung vorliegt bzw. deren langfristiger Lerntransfer nicht belegt ist.
Zu den vermeintlich objektiven Verfahren selbst: Wenn Tests länger als eine Stunde dauern, weiß man nicht mehr welcher Anteil der Resultate (und der Varianz zwischen den Teilnehmenden) aufgrund von Aufmerksamkeit, aufgrund von Intelligenz und wieviel die Fähigkeit zum Ausblenden innerer/äußere Störfaktoren beitrug. Und wie wäre das Ergebnis im HomeOffice ohne stressige Anreise im Zug, Auto und möglichen sozialen Stress oder Prüfungsangst?
Vor allem aber welcher Anteil ist für die ausgeschriebene Position erfolgskritisch? Insgesamt ist das Wissen über die Anforderungen in Firmen oft so gering oder unprofessionell erhoben worden, dass man hinten raus weder mit zertifizierten Personalpsychologen noch mit messinvarianten Verfahren oder verzerrungsfreien Interviewauswertungen sinnvolle Zusammenhänge zu Bewährung im Beruf, Leistung im Job oder gar Karriereerfolg belegen könnte. Es ist besser als beim Kaffeesatzlesen mit MBTI, persolog oder disg, aber diese Diskussion adressiert exakt keines der zentralen Probleme in der Personaleignungsdiskussion. Ob und was kollektive Intuition mit gemeinsamer Diskussion der eigenen kognitiven Verzerrungen unter Kollegen daran irgendetwas „heilen“ kann, bleibt Deters mit seinem holistischen Gefasel im Buch ebenso schuldig wie die DIN 33430, die bleiben wir sachlich, eine Prozessnorm ist und damit sogar Dinge legitim erscheinen lässt, die weder repliziert noch kausal evident sind. Wiederholung und Tradition sind selten gut Ratgeber, egal ob man sie als „seit 20 Jahren im Einsatz in 2000 Firmen“ oder als holistisch attribuiert, die Begründungen sind beide spekulativ hinsichtlich der Zielvorstellungen bei neuen Mitarbeitenden aufseiten der Bewerbenden UND der Organisationen
Die Praktikersicht zur Thematik.
• Menschen kann man in ihrer Komplexität und Dynamik nicht über einen Test erfassen.
• Menschen kann man nicht auswählen nur mit Intuition.
• Menschen sind kognitiv und emotional ausgestattet
• Das suchende Unternehmen ist kognitiv und emotional ausgestattet
• Das Matching muss diese beiden Dimensionen erfassen.
Kognitive Analyse des Menschen kann der IST 2000r gut leisten ( ich habe mit dem IST fast 50 Jahre gut, konkrete Erfahrung)
Das emotionale Potenzial eines Bewerbers kann ich gut über eine Motivanalyse, eine Begabungsanalyse und über eine Werteanalyse vornehmen
Fakten werden in einem Aufgabenprofil und in einem Anforderungsprofil gut beschreiben.
Die Kultur des aufnehmenden Bereiches (nicht des Unternehmens) muss konkretisiert aufgelistet sein.
Bewerber und suchender Bereich treffen sich in einem halbtägigen AC mit dem externen Personaldiagnostiger und der verantwortlichen Führungskraft.
Führungskraft und Externer versuchen die emotionalen Ausdünstungen des Bewerbers zu deuten. Fach- und Methodenkompetenz ist nicht messbar im Auswahlverfahren.
Danach sollte der Bewerber mit den neuen Kollegen im Bereich ein Kennlerngespräch haben.
Abgerundet wird dies durch einen konkreten Einarbeitungplan bis zum Ende der Probezeit.
Jedes Auswahlverfahren kann sich dem Bewerber nur nähern und eine Wahrscheinlichkeitsaussage über seine künftige Performance machen.
Absolute Aussagen gibt es nicht.
P.S. Das Auswahlverfahren würde ich keinem Psychologen mehr überlassen. ( Die Aussage ist heftig, aber über die Jahre gewachsen. Sie machen zuviel akademisches Klimbim.)