27. Juli 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Future-Skills: Katzengold

KRITIK: „Prognosen sind eine schwierige Sache. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Mark Twain war der Sache schon früh hellsichtig auf die Schliche gekommen. Wenn heute unisono und vehement Future Skills beschworen werden, hat das etwas Absurdes.

Und genau deshalb lohnt vielleicht doch ein zweiter Blick. Denn wo viel Rauch, da muss auch Feuer sein! Die changement widmet dem Thema einen ganzen Schwerpunkt mit acht Beiträgen. Die Lektüre habe ich mit Kopfschütteln und Augenverdrehen verbracht. Denn ich habe da nichts wesentlich Neues gelesen. Ähnliches hätte man auch schon in den 1990er-Jahren lesen können. Die Inhalte sind dieselben, bloß das Wording ist neu. So what?


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Nichts Neues unter der Sonne

Es gehört zum Gründungsmythos der Personalentwicklung, dass Menschen sich erfolgreich auf eine Lernreise begeben können. Letztlich können wir das Thema mit den Studien Kurt Lewins in den späten 1940er-Jahren verknüpfen. Er und seine Kollegen entlarvten die Great-Man-Theorie der Führung als Ideologie: Dass man zum Führer geboren werde. Seitdem heißt es stattdessen: Man kann Selbst- und Fremdführung lernen. Und in der Forschung wurde dies in den folgenden Jahrzehnten in Metastudien eindrücklich bestätigt: Intelligenz oder Persönlichkeit korrelieren lediglich moderat mit Führungserfolg. Es muss also noch mehr dazukommen, damit das mit der Performance etwas wird.

Also ist das Thema Personalentwicklung seit vielen Jahrzehnten durch die Bank ein Pflichtthema – auch wenn es in der Verwaltung eines mir bekannten Kommunalkreises immer noch ein Tabuwort ist (Über Steuerverschwendung zu sprechen wäre noch einmal ein anderes Thema). Und altbekannt ist auch die Maxime, dass Learning on the Job die Königsdisziplin ist. Wie gesagt: 80er/90er-Jahre-Stoff. Dann Triple-L: Life-Long-Learning. Ein Thema, dass auch schon mit Jahresringen aufwartet.

Und schließlich Kompetenzmanagement. Was John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel im Jahr 2003 dazu publiziert haben (Handbuch Kompetenzmessung), hat heute noch Bestand: Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz als Dispositionen, Handlungskompetenz als Performanz. Damit war alles gesagt. Qualifikationen sind nur papierene Zeugnisse. Was zählt ist, ob und wie man seine PS auf die Straße bekommt.

Für die Zukunft lernen wir

Jetzt also Future Skills: Warum werden sie heute so vehement gefordert und beschworen (Zukunftskompetenzen)? Die erste Erklärung scheint einfach: Die Unternehmen drehen am Rad. Weil die Wirtschaft sich so schnell verändert. Nun, nichts Neues, könnte man antworten. Nichts bleibt wie es ist. Man erinnere sich bloß an die die sogenannte 2. Revolution in der Automobilindustrie in den 1990er-Jahren. Auch damals hatte man hierzulande die Entwicklungen verschlafen. So wie heute: Demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Digitalisierung – wir wissen seit 20-30 Jahren davon. Wir haben aber all die Jahre nichts – oder kaum etwas – getan, um das Blatt zu wenden.

Jetzt soll jemand ganz schnell kommen und zaubern: Schnipp, schnipp! Im Ernst? „In die Ecke, Besen! Besen! Seids gewesen“ (Goethe). Das Verrückte an der Sache ist doch, dass die Zukunft schlicht und einfach offen ist. Wir können uns dazu zwar ein paar Gedanken machen. Und zumeist versuchen wir von der Gegenwart linear in die Zukunft zu extrapolieren. Doch wie die Zukunft wirklich wird: Wer weiß das schon … Schon mal was von Disruption gehört? Genau.

Irgendwas mit Zukunft

Was ich also im Schwerpunkt der changement gelesen habe: kalter Kaffee. Nun, Edelkraut und Sauter (Zukunftsfähigkeit entwickeln) erläutern noch einmal das bekannte Kompetenzkonzept von Erpenbeck und Rosenstiel. Und reichern es um das Thema Werte an. Das haben wir schon vor etlicher Zeit als seltsam und verstörend kommentiert (Wertemanagement?).

Fragen wir mal eine Professorin für Wirtschaftspsychologie (Sich neuen Zusammenhängen stellen), was es mit dem Thema auf sich hat: Sie antwortet sibyllinisch: „Als Oberbegriff lässt sich sehr gut mit dem Konstrukt der Veränderungskompetenz arbeiten.“ Ach was, kennen wir das nicht spätestens seit Charles Darwin (Survival of the fittest)? Es dürfte aber die Menschheit in den Jahrtausenden zuvor nicht minder umgetrieben haben. Und so stößt auch sie wieder ins gleiche Horn der Kompetenzen.

Die Persönlichkeit

Doch – jetzt wird’s haarig. Auch Persönlichkeit sei wichtig, meint die Autorin: „Persönlichkeitsmerkmale sind die Basis dafür, bestimmte Verhaltensweisen überhaupt zu zeigen. (…) Das bedeutet, einem neugierigen, aufgeschlossenen Menschen fällt es leicht, proaktiv mit Wandel umzugehen.“ Nun wird mir aber mulmig zumute: Was, wenn ich nun mal zur großen Menschheitsfraktion der Introvertierten, Neurotischen, Gewissenhaften, wenig sozial Verträglichen und vor allem der Nicht-Open-Minded gehören sollte? Wenn ich konservativ wäre, jedes Jahr in denselben Ort in Urlaub fahren würde? Und all den neumodischen Schnickschnack: Den bräuchte ich nicht, den lehne ich vielleicht sogar ab. Dann hätte ich vermutlich wenig Veränderungsbereitschaft. Und jetzt? Wird mich mein Arbeitgeber nun rausschmeißen (müssen)? Ist es das, was mir die Autorin sagen will?

Zum Glück hat sie noch eine kleine Differenzierung parat:

  • Allgemeine Veränderungsbereitschaft: Die ist zeitlich stabil (Persönlichkeit), also änderungsresistent.
  • Spezifische Veränderungsbereitschaft: Das meint eine situative Einstellung (Readiness for change). Diese können Unternehmen beeinflussen – durch eine gute Gestaltung der Change-Architektur.

Veränderungskompetenz entwickeln

Veränderungskompetenz kann, so ihre Aussage, trotzdem entwickelt werden. Doch dafür braucht es aber ein wenig (oder sogar, wenn ich es mir so recht überlege, verdammt viel) Arbeit:

  • Wissen und Erfahrung: Einstellungen sollen dem Einzelnen bewusst gemacht werden. In Workshops oder Team-Coachings rückt man diesen auf die Pelle.
  • Fähigkeiten und Verhalten: Das Verhaltensrepertoire der Mitarbeitenden soll erweitert werden – durch Verhaltenstrainings beispielsweise zu den Themen Problemlösefähigkeit und Selbststeuerung.
  • Persönlichkeit: Die Mitarbeitende muss verstehen, „warum sie positiv oder negativ auf Veränderungen reagiert.“ Bedürfnisse und Motive müssen erhellt werden. Am besten mit einem Persönlichkeitstest. Und dann mit Coaching.
  • Kontext: Die spezifische Veränderungsbereitschaft kann erhöht werden, wenn man den Kontext gut gestaltet. Das Unternehmen lässt die Mitarbeitenden Erfolgserlebnisse erleben, das steigert das Selbstwirksamkeitsempfinden. Vorbilder werden als Multiplikatoren beworben. Schließlich argumentiert man mit dem Nutzen und bietet Beteiligungsmöglichkeiten an.

Der Eindruck, der sich mir als – hypothetisch – änderungsresistente Persönlichkeit aufdrängt, ist: Man redet unaufhörlich auf mich ein, appelliert und lockt. Und doch will mein Gefühl nicht weichen, man wolle mich in ein Umerziehungsprogramm stecken, weil ich ja „nicht ok“ sei. Ich werde vermutlich wahnsinnig viel Lust auf Veränderung haben. Oder bockig werden. Oder mir eine gute Tarnung zulegen und versuchen, die Zumutungen immer wieder zu unterlaufen.

Super Idee: Gutes Zureden

Die Autorin ist mit ihrem Latein noch nicht am Ende. Es braucht selbstverständlich noch eine gute Lern- und Fehlerkultur im Unternehmen. Experimentierräume sollten geschaffen werden. Die Kommunikation sollte optimal gestaltet werden. Und transformationale Führung sei der Führungsstil der Wahl: „Die Werte und Einstellungen von Mitarbeitenden werden durch diesen Führungsstil transformiert und somit deren intrinsische Motivation und Leistung gesteigert.“

Ach, so einfach soll das sein? Allein, mir fehlt der Glaube. Und ich weiß doch, reden reicht nicht (Neurowissenschaftliche Fundierung von Coaching). Die Forschung zeigt zudem, wie irrsinnig hoch die Rate der havarierten Change-Projekte ist (Tschüss: Ponyhof).

Future Skills

Eine weitere Autorin, Julia Siems, bringt da noch einen weiteren Aspekt mit ins Spiel (Wandel als konstantes Phänomen). Kompetenzen seien out (wobei sie diese offenbar mit Qualifikationen verwechselt), Micro Skills seien in. Davon soll es „über alle Berufsbilder hinweg zwischen 14.000 und 16.000“ geben. Glauben Sie nicht? Ich auch nicht. Aber, wir ahnen es schon: „Dank Big Data und KI wird die Erfassung und Aktualisierung immer einfacher und schneller.“ So, so …

Wohlgemerkt, es wird überhaupt nicht gesagt, was genau solche Micro Skills sein sollen oder wie man sie erhebt. Aber es wird behauptet, dass sie wichtig seien. Und noch wichtiger als diese seien Future Skills. Die werden unterteilt in Meta Skills (18 bis 20 Stück) und Power Skills (3 Stück). So konzipiert sie eine Pyramide mit der Basis Micro Skills, der mittleren Schicht (Meta Skills) und der Spitze (Power Skills). Hier erfahren wir immerhin, dass „Digital Literacy“ und „Data Literacy“ zu den sogenannten Soft Skills, wie die Meta Skills plötzlich genannt werden, gehören sollen.

Power Skills

„Sich selbst und andere verändern“ sei ein Power Skill. Ein weiterer: „Algorithmen-basiert führen.“ Nicht, dass solche Konzepte nun definiert würden … Stattdessen schwärmt die Autorin von Workforce-Ökosystemen, die schon in Nordamerika und Ostasien erfolgreich seien. „Dort wird bis 2030 die Mehrheit der Arbeitskräfte gar nicht mehr fest angestellt im traditionellen Sinne sein, sondern es etabliert sich ein Workforce-Ökosystem aus Kontraktoren, Partnerfirmen-Beschäftigten, Freelancern, Remote Workern, Gig Workern sowie einer festen Stammbelegschaft heraus.“

Heiligs Blechle! Offenbar sind radikaler Kapitalismus und Plattform-Ökonomie gemeint (Irgendwas mit Partnern). Und jetzt kommt auch der letzte Power Skill noch zum Tragen: „Mit Daten starke Geschichten erzählen.“ Ich weiß nicht, was man der Dame in den Tee getan haben könnte, aber vielleicht hätte da mal jemand einen Tipp für mich? Ihre Erläuterung zum Power Skill lautet jedenfalls, „das neue Storytelling integriert verschiedene Meta Skills wie „Data Skills“, „Leadership Skills“, „Neugier“ und „kontinuierliches Lernen“ sowie „Kommunikation.“ – Das klingt schlicht nach Phrasendreschmaschine. Vermutlich ist es besser, an der Stelle das Referat abzubrechen – es wird im Folgenden nicht besser.

Da zappelt die Wurst an der Angel vor der Nase

Kommen wir lieber auf die Eingangsfrage zurück: Warum lohnt ein zweiter Blick auf das Thema Future Skills? Denn viel Rauch (um nichts?) konnten wir beobachten. Ich erkläre es mir so: Es wird überall eng. Da muss man folglich zeigen, dass man etwas tut. Viele Unternehmen tun auch etwas – mitunter sogar hervorragendes. Doch all das braucht Zeit. Die man glaubt, nicht mehr zu haben. Und spektakuläre Effekte stellen sich bislang so leicht nicht ein. Also braucht es viel Chichi, um sich ein wenig Applaus zu erhaschen. Und Papier ist bekanntlich geduldig. Von Future Skills zu sprechen, hört sich enorm wichtig an. Auch wenn der Begriff bloß ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft sein sollte. Merkt doch keiner …

Manche Unternehmen wissen sich in ihrer Not nur noch so zu helfen, dass sie irgendwelche selbsternannten Voodoo-Priester zur Hilfe rufen. Die Mitarbeitenden tun mir echt leid. Denn sie müssen all den Quatsch ertragen und ausbaden.

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