REZENSION: Eva Jonas / Isabell Braumandl / Christina Mühlberger / Georg Zerle – Selbstführung durch Coaching. Ein psychologisches Konzept zur Unterstützung von Coaching-Prozessen. Springer Fachmedien 2024.
Selbstführung ist ein zentraler Gedanke, der sich auf die philosophische Aufklärung zurückführen ließe: Autonomie als eine ethische Maxime, sich das Leben zwischen Freiheit und Verantwortung nach eigenen Vorstellungen einzurichten. Autonomie ist aber keine Selbstverständlichkeit. Immer schon musste sie gegen Obrigkeit, Gewalt und Geld oder Besitz verteidigt werden. So auch heutzutage. Ein Selbstoptimierungswahn einerseits, aber andererseits auch mehr oder minder offensichtliche Manipulationsversuche (Fake News) unterminieren immer wieder die Autonomie.
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Wenn es im Coaching um Selbstführung gehen soll, stellen sich die Autorinnen bewusst in diese emanzipative Tradition. Der Leserschaft wird folglich gleich zu Beginn schon die berühmte Coaching-Definition von Siegfried Greif (2008) offenbart: „… selbstkongruente Ziele“. Und die Bezugnahme auf den Nestor Greif zieht sich durch das ganze Buch. Sodann wäre da noch ein weiterer Gewährsmann aus Osnabrück zu nennen: Julius Kuhl. Seine Persönlichkeits- und Motivationstheorie („Persönlichkeits-System-Interaktionen“, kurz: PSI) wird von den Autorinnen als Metatheorie ausgeflaggt und mit dem Rubikon-Modell von Heckhausen/Gollwitzer kombiniert.
Ein Lehrbuch
Nach dem Einführungskapitel wird der Leserin die altbekannte historische Betrachtung der Entwicklung von Coaching präsentiert, die weitgehend auf Böning basiert und in ihrer idealtypischen Form durch Wiederholung auch nicht mehr Nährwert entwickeln mag. Zahlreiche Definitionen werden aufgelistet und das Thema Forschung zum Coaching wird umfangreich ausgeführt – inklusive diverser Metaanalysen etc. pp. Das ist barocker Lehrbuchstyle. – Warum dann in diesem Kontext modische Vokabeln wie Future Skills und Mindset auftauchen müssen? Fragt man sich dann.
Mit dem dritten Kapitel geht es dann über 90 Seiten tief, tief in den Maschinenraum der Theorie. Die Autorinnen unterscheiden drei Ebenen: Prozessebene, Funktionsebene und Beziehungsebene. Ehrlich gesagt hat mich der Begriff Ebene von Anfang an irritiert (wie schon damals bei der Lektüre des – ansonsten Weg weisenden – Buchs von Greif). Bei Ebenen denke ich an aufeinander aufbauende Etagen oder vertikale, horizontale und sagittale Schnitte. Doch die Ebenen, die die Autorinnen präsentieren, fügen sich meines Erachtens nicht so leicht in ein schlüssiges System:
Auf der Prozessebene geht es um Zielfindung und -verfolgung. Diese dekliniert sich entlang der vier Handlungsphasen des stark kognitiv gefärbten Rubikon-Modells von Heckhausen und Gollwitzer aus den 1980er-Jahren.
Auf der Funktionsebene wird die Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen von Kuhl (2001) zugrunde gelegt. Vier neuronale Erkenntnissysteme steuern demnach die autonome Selbstregulation (Planungs-, Handlungs-, Erfahrungs- und kritische Wahrnehmungsexpertise). Und sieben Funktionsebenen entscheiden über die Handlungen einer Person. Wichtig dabei: Die Unterscheidung in Erst- und Zweitreaktion. Und die Unterscheidung von vier Hauptselbststeuerungskompetenzen.
Auf der Beziehungsebene ist es entscheidend, dass sich Klienten sicher fühlen und Vertrauen zum Coach aufbauen können. Dann kann es gelingen, dass sie Zugang zu ihren Ressourcen finden. Die theoretische Rahmung bildet hier der regulatorische Fokus (Higgins, 1997), Vertrauens- und Gerechtigkeitsmodelle sowie das Modell der allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie nach Grawe (2004).
Coaching als soziale Interaktion
Im vierten Kapitel wird das Loop2Loop-Modell der sozialen Interaktion vorgestellt. Das klingt nun ziemlich locker und verspielt, meint aber auch nichts anderes, als dass man Coaching gar nicht anders denn als Koproduktion konzeptualisieren kann. Ich persönlich habe das schon vor zehn Jahren geschrieben. So wäre es an dieser Stelle vielleicht angebracht, auf einen weiteren Osnabrücker Gewährsmann zu verweisen. Nämlich auf Jürgen Kriz, der hierfür den Begriff der Synlogisation geprägt hat.
Das wäre dann ein wenig anspruchsvoller als der Doppel-Loop der Autorinnen. Doch dieses Gedankengut hat leider keinen Eingang in die konzeptionellen Überlegungen der Autorinnen gefunden. Was ich bedauere, denn mit dem klassisch-analytischen Faktoren- sowie linealen Modell kommt man nicht so weit. Wenn man soziale Prozesse angemessen modellieren will, braucht es meines Erachtens einen systemischen (synergetischen) Zugang. Ja, ich weiß, ich kritisiere hier eine sozialpsychologische Expertin. Aber ich werde auch nicht müde, auf die Unangemessenheit des Mainstream-Paradigmas in der Psychologie hinzuweisen. Und wir haben ja längst bessere Ansätze (Erkennen, wie man „tickt“). Selbst in Salzburg, an der akademischen Niederlassung der Erstautorin, ist man meines Erachtens schon weiter (The crafting for stress management coaching (CSMC) program).
Praxishandbuch
Nach 180 Seiten Theorie geht es nun (endlich) an die Praxis. Das Selbstführungscoaching-Konzept der Autorinnen ist auf der Basis der zuvor dargestellten Theorien entstanden. Es wurde durch begleitende Forschung evaluiert und umfasst fünf Coachingsitzungen mit allen vollständigen Unterlagen sowie Verweisen auf zusätzliches Online-Material.
„Ziel des Coachings ist die Begleitung von Klient:innen, um deren Selbstführungskompetenzen bei der persönlichen Zielverfolgung und -erreichung zu aktivieren, zu unterstützen und ggf. weiterzuentwickeln. Das wird durch ein flexibles und bewusstes Agieren zwischen den vier Erkenntnissystemen, den Expertisen, angestoßen.“
Zunächst werden grundsätzliche Transferüberlegungen angestellt (ehe es wirklich an die Praxis geht). Dafür geht es wieder in den Maschinenraum der Funktionsebene (Selbststeuerungskonzept). Die vier neuronalen Expertisen werden jeweils Ausgangspunkt für eine Coachingsitzung. Damit wird noch einmal unterstrichen, dass die PSI-Theorie Kuhls hier fürs Coaching adaptiert wird.
Der Coaching-Prozess selbst besteht aus den fünf Sitzungen nebst diversen Hausaufgaben. Diese werden im Buch ausführlich dargestellt und kommentiert. Das sechste Kapitel liefert nun alle Unterlagen chronologisch sortiert am Stück. So kann man sich die Arbeitsblätter etc. herauskopieren. Wobei sie auch im Downloadbereich des Verlags abrufbar sind.
Fazit
Die Leserschaft findet eine Kombination von Lehrbuch und Praxisanleitung vor. Die Umsetzung verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit dem theoretischen Stoff. Das ist definitiv kein Spaziergang. Die Toolbook-Anhängerschaft sei somit gewarnt. In diesem Buch wird immer wieder das konkrete Handeln theoretisch abgeleitet. Bauchgefühl, bunte Bildchen und weichgespülte Phrasen findet man hier nicht.
Die theoretische Grundlage ist gediegen. Allerdings konnte ich mich einiger Irritationen auch nicht erwehren: Warum die klare Priorisierung des Rubikon-Modells? Hatten Storch und Krause, die Begründer des Zürcher Ressourcen Modells (ZRM), dieses nicht – mit guten Gründen – zum Rubikon-Prozess erweitert? Überhaupt wird nur marginal auf das ZRM verwiesen. Weitere Irritationen und Fragen könnten angeschlossen werden.
Ein letzter Punkt: Wer – wie ich – sich bemüht, durch und durch systemisch zu denken und zu handeln, der stört sich am analytischen und linealen Charakter dieser Coaching-Konzeption. Und doch habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen.