KRITIK: Hier mal ein kleines Gedankenexperiment. Angenommen, Sie brauchen täglich eine Stunde, um zu Ihrem Arbeitsplatz und zurück zu fahren. Eines Tages wird eine neue Strecke fertig, die es Ihnen ermöglicht, nur noch eine halbe Stunde unterwegs zu sein. Was tun Sie mit der Zeit, die Sie plötzlich gewonnen haben?
Angeblich bewegt sich die Zeit, die Manager dank des Einsatzes generativer KI geschenkt bekommen, in einem ähnlichen Umfang (Huch, schon fertig!). Wobei das Ausmaß stark von der Art der Tätigkeit abhängt. Kürzlich hat mir ein Entwickler extrem beeindruckt erzählt, dass er dank KI ein kompliziertes Programm in einer halben Stunde fertig stellen konnte, für das er, hätte er alles selbst programmiert, vermutlich eine Woche benötigt hätte. Und das in einer Qualität, von der er nur träumen konnte. Im Schnitt, so eine Studie der MIT Sloan, würde die Programmierzeit um satte 56% reduziert.
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Schwere Zeiten für Software-Entwickler. Aber hier geht es um eine andere Frage: Was anfangen mit der eingesparten Zeit? Eine ähnliche Frage habe ich mal Kollegen gestellt, und die Antwort war sinngemäß: Andere Aufgaben, die sonst liegenbleiben, bearbeiten. Tatsächlich lauteten die Reaktionen in einer Studie der Universität Lausanne ähnlich. Aber offenbar stimmt das nicht komplett, denn 36% der Befragten gaben zu, mehr als die Hälfte dieser Zeit zu verschwenden.
Vor allem aber: Nur wenige gaben an, sie für Kontakte, die Familie, zum Erlernen neuer Fähigkeiten oder für ihre Gesundheit zu nutzen. Müssen wir uns also erst einmal daran gewöhnen, dass wir schon jetzt und in Zukunft alle mehr Zeit haben werden?
Strategisch vorgehen?
Es ist schon seltsam, welche Tipps schablonenhaft aus solchen Erkenntnissen abgeleitet werden. Strategisch solle man vorgehen. Zuerst müsse man analysieren, wie viel Zeit tatsächlich eingespart wird. Zum Beispiel mit einem Pilotprojekt. Die Mitarbeitenden sollen protokollieren, wie viel Zeit sie übrig haben, in Form eines Tagebuches zum Beispiel. Dann mit ihnen überlegen, was man am besten mit der Zeit anfangen könne. Und immer wieder überprüfen, ob die Umverteilung sinnvoll ist und funktioniert. Ernsthaft jetzt?
Richtig ist sicher, dass jemand, der hier und dort eine halbe Stunde einspart, sich dessen vermutlich gar nicht bewusst ist. Wir bemerken es zwar, wenn plötzlich ein Meeting ausfällt, ein Termin abgesagt wird oder eine Aufgabe, für die wir einen ganzen Tag eingeplant hatten, unerwartet am Mittag schon erledigt ist. Aber regelmäßige Einsparungen werden wir vermutlich sofort mit anderen Dingen füllen und uns irgendwann wundern, dass wir gar nicht mehr Zeit haben.
Also was tun? Ich tendiere zu dem Vorschlag des Nobelpreisträgers Christopher Pissarides, der empfiehlt, einfach weniger zu arbeiten und mehr für unser Wohlbefinden zu tun. Indem man auf die Viertagewoche umstellt. Vielleicht auch erstmal auf eine Viereinhalbtagewoche. Denn das kennt sicher jeder von uns: Der Vorsatz, hier und da eine halbe Stunde einzuplanen, um Kontakte zu pflegen oder etwas für die eigene Gesundheit zu tun, lässt sich in der Regel nur kurz aufrechterhalten. Aber schon Freitagmittag das Büro zu verlassen oder den Rechner zu schließen – daran werden wir uns schnell gewöhnen. Jede Wette …