Neben dem „ersten Betriebssystem“ einer Organisation kann ein „zweites“ existieren. Das im Gegensatz zum ersten nicht-hierarchisch, sondern netzwerkartig aufgebaut ist und auf Selbstorganisation beruht. Das soll funktionieren, zum Beispiel bei EnBW.
Ich erinnere mich, dass vor 20 Jahren in dem Konzern, in dem ich angestellt war, ein Aufruf erging. Alle Mitarbeiter des Bereiches konnten Themen einreichen, die ihnen am Herzen lagen. Aus all den Vorschlägen wurden eine Reihe ausgewählt (vom Management bzw. der Projektleitung), dann konnten die Initiatoren Arbeitskreise gründen und hierfür Teilnehmer anwerben. Am Ende wurden die Ergebnisse vor dem Top-Management präsentiert, wo auch das weitere Vorgehen beschlossen wurde.
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Das hat erstaunlich gut funktioniert und war extrem motivierend – bemerkenswert innovativ aus heutiger Sicht. Es war auch nicht schwer, für die jeweiligen Themen Mitstreiter zu rekrutieren – und die Arbeit in den Kreisen wurde selbst organisiert. Vor allem saßen dort Mitarbeiter der unterschiedlichsten Hierarchieebenen zusammen, und es waren nicht immer die „Ranghöchsten“, die die „Leitung“ innehatten.
Ungefähr so stelle ich mir das zweite Betriebssystem vor, das John Kotter „erfunden“ hat. Ist eine schlaue Idee, die sich vermutlich gut verkaufen lässt. Auf diese Weise können Unternehmen nämlich die hierarchische Organisation aufrechterhalten und gleichzeitig agil werden.
Erinnert andererseits an die Diskussion um die Projektorganisation. Auch hier gibt es ja neben den klassischen Abteilungen und Silos übergreifende Zusammenarbeit. Mitarbeiter werden abgestellt, um in Projektteams an neuen Technologien oder Produkten zu arbeiten. Nur wird hier in der Regel ein Projektleiter „von oben“ eingesetzt und das Ganze kontinuierlich begleitet – mit regelmäßigen Rückmeldungen an die Hierarchie in Form der Lenkungsteams.
All das läuft selten reibungslos. Gerade das „Abstellen“ der Mitarbeiter für Projekte, wenn sie denn nicht für einen befristeten Zeitraum dem Projekt in Vollzeit zur Verfügung gestellt werden, ist konfliktreich. Und für die Mitglieder Chance und Risiko zugleich.
Wie mag das nun aussehen, wenn Mitarbeiter sich selbstorganisiert, ohne Rücksprache mit der Hierarchie, ein Thema suchen und loslegen? Bei EnBW, wo man das „zweite Betriebssystem“ mit Beraterhilfe einführte, werden diese Initiativen von agile Coachs begleitet. Und offenbar werden sie auch trainiert und geschult und durch „Anreize motiviert“. Das finde ich schon seltsam: Wieso müssen Mitarbeiter motiviert werden, um an Themen, die sie interessieren, mitzuwirken?
Ich frage mich, ob das auf Dauer gut geht. Wo stoßen diese temporären Teams auf Grenzen? Welche Ressourcen stehen ihnen zur Verfügung? Was, wenn sie Entscheidungen aus dem ersten Betriebssystem benötigen?
In dem von mir selbst erlebten Beispiel war es ein einmaliges Ereignis – mit der Präsentation der Ergebnisse lösten sich die Teams auf bis auf jene, die den Auftrag erhielten, zusammen mit Experten ihre Lösung weiter zu verfolgen. Ist das zweite Betriebssystem nach Kotter tatsächlich eine „Dauereinrichtung“?
Noch ein Gedanke: Informelle Netzwerke gab und gibt es in jeder großen Organisation, auch ohne Aufforderung von oben oder Beratung von außen. Mehr noch: Kaum eine Organisation könnte ohne diese Netzwerke überleben. Wenn Mitarbeiter immer auf Entscheidungen von oben warten würden, sähe es düster aus. Nur haben sie dafür keinen „Auftrag“ – sie machen einfach. Wenn es schiefgeht, dann haben sie Pech gehabt und ihnen werden die Ohren langgezogen, weil sie ohne Auftrag gehandelt haben.
Was, wenn nun die Botschaft an die Belegschaft ergeht: Organisiert euch, legt los, seid kreativ – und diese Teams Misserfolge produzieren? Irgendwie noch schwer vorstellbar, die Geschichte mit dem doppelten Betriebssystem. Irgendwie klingt das nach einem dramatischen Widerspruch: Selbstorganisation organisiert einführen…