INSPIRATION: Man stelle sich vor, eine Unternehmensleitung hätte vor einem halben Jahr ein Experiment beschlossen und folgende Ansage gemacht: „Alle Mitarbeiter bleiben ab sofort zu Hause, nur noch jene, die unbedingt vor Ort benötigt werden, dürfen in die Firma! Nun seht zu, wie Ihr zurecht kommt.“ Genau dieses Realexperiment hat uns Corona ermöglicht. Wie man die Ergebnisse auswertet, erklärt Hans Wüthrich in der Zeitschrift Führung + Organisation (Die Corona-Krise als „Möglichkeitslabor“ für die Zukunft begreifen).
Seine These: Ein solch radikaler Versuch ist geeignet, „bisherige, die Wirklichkeit konstruierende Annahmen zu überprüfen.“ Soll heißen, dass man Annahmen, Vorurteile und Dogmen widerlegen könnte und Änderungen in der Führungshaltung und dem Führungshandeln vornehmen kann. Dazu empfiehlt, das Realexperiment mit folgenden Fragen auszuwerten:
- Was haben wir konkret erlebt?
- Was hat uns positiv und was negativ überrascht?
- Welche bisherigen Annahmen wurden widerlegt und welche bestätigt?
Und die Antworten?
Vielleicht lauten einige Antworten wie folgt: Alle haben sich viel schneller an die Online-Kommunikation gewöhnt als gedacht, und die meisten kamen auch prima mit den technischen Anforderungen klar. Einige Führungskräfte taten sich schwer, ließen sich aber gerne helfen. Überhaupt war die Solidarität und Hilfsbereitschaft untereinander hoch. Die Videokonferenzen sind produktiver als gedacht, die Menschen sind dabei disziplinierter und hören besser zu und die Meetings sind kürzer als bisher – um nur einige Beispiele zu nennen.
Die gesammelten Erfahrungen könnten dann in konkretes neues Führungsverhalten münden. Beispielsweise: Statt restriktiver Homeoffice-Regeln und enger Zielvorgaben auf eine konsequent vertrauensbasierte Führungskultur setzen. Führung stärker als Selbstführung verstehen und Entscheidungen dezentral treffen lassen. Mehr auf die „Wir-Intelligenz“ und die Improvisationsfähigkeit der Mitarbeiter vertrauen.
Natürlich sollte man das, was sich bewährt hat, beibehalten. Ganz banal: Wenn sich Videokonferenzen in bestimmten Bereichen als höchst produktiv erwiesen haben, warum dann zu den alten nervenden Präsenzmeetings zurückkehren? Ich denke auch, das ist eine große Chance, viele Mitarbeiter bei bestimmten Themen einzubeziehen. Wo man früher die Zahl der Teilnehmer an einem Meeting stark begrenzt hat, und sei es nur aus organisatorischen Gründen, könnte man per Videokonferenz in Zukunft alle einladen, die von einem Thema betroffen sind.
Öfter Experimente wagen
Vor allem aber: Mutiger werden, was die Durchführung von Experimenten betrifft. Corona hat gezeigt, dass nicht alles zusammenbricht, wenn man für eine gewisse Zeit die Spielregeln komplett ändert. Das könnte man aktiv starten und nicht warten, bis die nächste externe Krise uns dazu zwingt.
Bevor Sie nun als Mitarbeiter darauf warten, dass Ihr Management eine solche Auswertung der Krise startet, könnten jeder von uns die drei Fragen auch für sich beantworten, nicht nur beruflich:
Was habe ich konkret erlebt? Eine Entschleunigung, weniger Termine, Zeit für Dinge, die ich sonst nicht hatte …
Was hat mich positiv und negativ überrascht? Mehr Hilfsbereitschaft, mehr Rücksichtnahme, mehr Disziplin bei der Befolgung von Regeln, aber auch erstaunlich unversöhnliche Diskussionen über Standpunkte in Zeiten großer Unsicherheit …
Welche meiner bisherigen Annahmen wurden bestätigt und widerlegt? Schwere Frage, stelle ich fest. Welche Annahmen hatte ich, die dank Corona widerlegt wurden? Dass einige Menschen mit neuen Technologien nicht klarkommen oder sie erst gar nicht nutzen wollen. In der Tat gibt es diese, aber deutlich mehr überwanden diese Hürde. Dass ich gut ohne große Reisen und Ausflüge in die Stadt klarkomme und nichts davon vermisse. Stimmt im Großen und Ganzen, wenn ich auch den ersten Besuch einer Stadt nach Wochen genossen habe. Dass in drohenden Katastrophen die Menschen anfangen zu horten und kein Vertrauen in den Markt haben (und dabei vor allem Klopapier bunkern) … Dass Menschen sich beklagen, wenn sie plötzlich neues, ungewohntes Verhalten zeigen müssen (z.B. Maske tragen) … Dass sie es als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit bezeichnen würden, hätte ich wohl nicht als Annahme formuliert – aber entspricht wohl auch nicht dem wahren Grund der Klagen.
Welche Ihrer Annahmen wurden bestätigt oder widerlegt?