REZENSION: Ramzi Fatfouta – Ist das Diversity oder kann das weg? Wie Menschen und Organisationen von gelebter Vielfalt profitieren. GABAL 2025.
Ein Diversity-Leitbild zu entwickeln und zu propagieren, kann nur der Anfang einer längeren Reise sein. Bleibt es dabei, fällt einem das Thema schmerzhaft auf die eigenen Füße. Weil Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten merken, dass es sich bloß um ein Lippenbekenntnis handelt. Damit hat das Unternehmen mehr Schaden angerichtet, als wenn es gar nichts gemacht hätte. Wie heißt es so schön bei den alten Römern: Si tacuisses … – Wenn Du doch geschwiegen hättest.
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Dabei ist knapp 60 Prozent der Deutschen Diversity im Arbeitskontext wichtig. Doch in den Vorstandsetagen deutscher Firmen finden sich lediglich 18 Prozent Frauen. – Um nur mal einen diskussionswürdigen Aspekt von Diversity herauszunehmen. Denn da gibt es auch noch die Alten, die Menschen mit Migrationsgeschichte, Neurodivergente, Behinderte, der gesellschaftlichen Sexualnorm nicht Entsprechende und die Menschen anderer Religion, anderer Hautfarbe … (AGG). Lediglich 2 Prozent deutscher Unternehmen verfügen über ein ausgereiftes Diversity-Management. Das kann nachdenklich machen.
Was ist Diversity (und was nicht?)
„Alles so schön bunt hier“ (Nina Hagen). Ist Diversity, verstanden als demografische Vielfältigkeit, ein Allgemeinplatz? Oder geht es um einen spezifischen Schutz vor Diskriminierung? Schon den Begriff Diversity zu definieren, zeigt der Autor, ist gar nicht so einfach. Denn es gibt leicht sichtbare und weniger sichtbare Merkmale von Diversity. Es braucht daher eine ganzheitliche Betrachtungsweise.
Und Zahlen – die der Autor liefert und gut lesbar darstellt. Es wird deutlich: Etliche, zum Teil gegenläufige Einflussfaktoren wirken auf das Erleben von Vielfalt ein. Und die These steht im Raum: Diversity könne die Resilienz von Unternehmen in einer VUCA/BANI-Welt erhöhen. Dabei ist diese steile These so einfach gar nicht zu verifizieren. Zugleich wird sichtbar, dass in harten Zeiten (Polykrise) stereotype Meinungen Zulauf bekommen. Und damit auch der Ruf nach der harten Hand wieder lauter wird. Und für die ist Vielfalt ein Übel.
Niemand ist vor Vorurteilen gefeit, das lehrt der Unconscious Bias. Und Autor Fatfouta bringt einige Beispiele, die dazu führen können, dass sich Leser:innen irritiert am Hinterkopf kratzen mögen. Der „Think Manager, think (heterosexual) male“-Bias gilt als einer der bekanntesten. Es wird klar, Vorurteile wirken und beeinflussen unsere soziale Realität tagtäglich. Und gar mancher, der sich frei von Vorurteilen wähnt, hat vermutlich ziemlich ausgewachsene. Sie sind ihm oder ihr nur nicht bewusst.
Und dann gibt es da noch Privilegien, die denen, die sie haben, meist gar nicht auffallen, da sie ja „normal“, also selbstverständlich sind. „Ein weißer Mann muss sich beispielsweise weniger Gedanken darüber machen, ob er von anderen im Meeting ernstgenommen wird, den gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhält oder trotz Vollzeitjob ein guter Vater sein kann.“ Scham, Schuld, Angst – aber auch Abwehr und Bagatellisierung gehören ebenfalls zum Thema Diversity. Es ist ein emotionales Thema.
Welche Chancen, aber auch Risiken bietet Diversity für Unternehmen?
Der zweite Teil des Buchs widmet sich populären Diversity-Mythen – 13 an der Zahl. Sie werden jeweils kurz vorgestellt und dann anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse entkräftet oder gerade gerückt. Hinzu kommen jeweils Essentials aus Interviews mit Expert:innen. Die Volltexte sind über einen QR-Code online abrufbar. Apropos: Auch zuvor schon wurden über QR-Codes Hintergründe oder Arbeitshilfen angeboten. Man mag sich kaum vorstellen, auf welchen Umfang sonst das Buch angewachsen wäre. Aber so bleibt es dankenswerterweise überschaubar.
Es würde hier zu weit führen, alle Mythen darzustellen. Vielleicht so viel: Nein, Diversity geht nicht wieder weg. Mit dem populären Generationen-Fetischismus hat es auch nicht zu tun; im Gegenteil. Und wer Diversity als „politisch korrekt“ bezeichnet, betreibt bloß infame Augenwischerei. Und Diversity ist auch kein Nice-to-have-Thema, bei dem die Unternehmensführung sich ungestraft raushalten kann und es an die subalterne HR-Abteilung delegieren darf.
Wie gelingt es, Diversity nachhaltig im Unternehmen zu implementieren?
„Vielfalt per se bietet als Ausgangspunkt zunächst noch keinen Vorteil für Unternehmen,“ so Fatfouta. Der Circle of Diversity beginnt für ihn mit Inklusion. Und damit ist die Entwicklung einer inklusiven Unternehmenskultur gemeint. Womit der Grundstein für Gleichberechtigung (nicht: Gleichheit) gelegt ist. Das strahlt dann nach außen, führt zur Wahrnehmung von Diversity im Publikum. Und erzeugt in der Belegschaft das Gefühl von Belonging, also von Zughörigkeit. Es geht um eine strategische Perspektive, die sich in ein evidenzbasiertes, vierstufiges Modell (kurz: D.E.I.B.) übersetzen lässt: Design your strategy, Embrace your emotions, Implement your changes sowie Benchmark and evaluate your efforts.
Diesen Stufen lassen sich dann zahlreiche Methoden zuordnen. Wobei Listen von jeweils 9 potenziellen Fallstricken sowie Erfolgsfaktoren gleich drauf deutlich machen: Man wird keinen Spaziergang vor sich haben. Die Darstellung der Stufen und der Methoden erstreckt sich dann über mehr als 40 Seiten, die durch etliche Listen, Grafiken, Tabellen, Textkästen und – nicht zu vergessen – über QR-Codes als Sprungmarken erreichbares zusätzliches Material strukturiert werden. Hier bekommt die Leserschaft folglich schon sehr konkretes Material an die Hand, das zum Umsetzen einlädt.
Fazit
Ist das Diversity oder kann das weg? Diese Frage zieht sich durch das gesamte Buch. Und sie offenbart eine gewisse Ambivalenz. Denn sie thematisiert eben auch Unverständnis, Abneigung und sogar Feindschaft, mit der das Diversity-Projekt kommentiert, begleitet und konterkariert wird. Diversity behauptet, die besseren Antworten auf die Polykrisen liefern zu können als die „Kettensäge“. Die unermüdlichen Argumentationen, die zahlreichen Studienergebnisse lassen den Eindruck entstehen, dass Diversity wirklich die bessere und wertvollere Alternative ist.
Autor Fatfouta hat aber auch die fatalen psychologischen Mechanismen beschrieben, die zum Gegenteil führen: in die Exklusion. Das Wertvolle am Buch ist, dass es reichlich Material für Diskussionen liefert. Die strategischen Konzepte und Methoden sollen nicht den Eindruck machen, es ginge nur darum, ein richtiges Konzept mit den richtigen Methoden umzusetzen. Stattdessen bleibt klar, es muss immer diese Diskussionen geben. Sie sind der Kern von Diversity – die Arbeit an der Unternehmenskultur: In welchen Organisationen wollen wir wie leben? Was sind gute Spielregeln? Was können wir erwarten oder erhoffen? Was fehlt und wofür wollen wir uns stark machen? Solche Gespräche dürfen nicht abreißen.
Insofern hat der Autor ein Buch mit dem nötigen Tiefgang geschrieben. Ein angekündigtes Tool-Book mag das möglicherweise gut ergänzen. Dieses Buch gehört in die Hände von Entscheidern. Aber auch in die von Führungskräften und Mitarbeitenden. Ich hoffe und wünsche, dass es Anlass für zahlreiche Diskussionen bietet.