KRITIK: Fake News, Filterblasen und Echokammern: Social Media, einst als soziale Errungenschaft gefeiert, hat sich in ihr Gegenteil verwandelt. Sie ist zur kapitalistischen „Hype Machine“ verkommen. Gibt es einen Ausweg?
Autor Karlheinz Schwuchow (Hebel für die Hype Machine) stellt in managerSeminare den MIT-Professor Sinan Kayhan Aral und dessen Thesen zur „Hype Machine“-Ökonomie vor. Offensichtlich ein neues Wort, mit dem man sich als Autor besser positionieren kann. Denn dessen Erkenntnis ist nicht neu und lautet seit mehr als 20 Jahren: Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie. Aufmerksamkeit, so lautet die These, ist eine knappe Ressource und – neben Geld – eine begehrte Form des Einkommens. Ihre Bewirtschaftung in Form von Prestige, Reputation, Prominenz und Ruhm ist schon lange der Schlüssel der Pop-Kultur. Und im Bereich der Werbung wird es (=Beachtung) ebenfalls schon lange konkret zu Geld gemacht (=Reichweite).
Anzeige:
Machen Sie Ihr Unternehmen zukunftssicherer: Lesen Sie "Bright Future Business", das neue Buch von Prof. Dr. Pero Mićić. Erfahren Sie, welche acht Eigenschaften ein zukunftssicheres Unternehmen ausmachen und wie man sie als Masterplan für die Entwicklung des eigenen Unternehmens wie auch als Checkliste für Investments nutzt. Zum Buch...
Seit Social Media aus der Phase der Plauderei in ein kommerzielles Projekt erwuchs, entstand der Plattformkapitalismus. Plattformen leben nicht von Mitgliedsbeiträgen, Spenden, netten Worten oder ähnlichem, sondern von Werbeeinnahmen. Das erklärt schon alles … Es geht nicht um irgendwelche humanistischen Ziele, es geht bloß ums Geldverdienen: Viele Klicks, starke Aufmerksamkeit, große Möglichkeiten Werbung auszuspielen, viel Werbung, viel Umsatz, viel Gewinn. Wir haben schon mehrmals über dieses Phänomen berichtet (Gefangen im Spinnennetz?). Der heutige Kampf um Aufmerksamkeit ist kein fairer Kampf mehr, argumentierte vor Jahren schon McNamee. Die Tech-Konzerne sind inzwischen sogenannten Gatekeeper des Internets geworden. Sie bestimmen global, wo die Musik spielt. Und wie sie spielt.
Die Macht der Algorithmen
Doch so politisch äußert sich Autor Karlheinz Schwuchow nicht. Er beschränkt sich darauf, die – schon länger in der Medienpsychologie bekannten – „Mechanismen der Hype Machine“ zu beschreiben:
- Small-World-Effekte: Nachrichten verbreiten sich rasend schnell und teilweise exponentiell.
- Algorithmische Verstärkung: User reagieren auf emotionale, polarisierende und überraschende Inhalte.
- Psychologische Anreize: „Likes, Shares, Retweets und Views bewirken Dopamin-Schübe.“
- Hype Loops mit Netzwerkeffekten: „Kreisende Erregungen im Netz“, wie das Peter Kruse einmal nannte, sind brutale Verstärkersysteme.
Das müsse man wissen, so Autor Schwuchow, um gut mit Social Media klarzukommen. Laut Sinan Aral würden hier vier Hebel helfen:
- Geld: Es fehlen wirtschaftliche Anreize, das System zu ändern. Aral fordert politische Maßnahmen wie die Regulierung der Plattformen.
- Neue Algorithmen: Aral spricht sich für Algorithmen aus, „die Filterblasen verhindern und wahrheitsorientierte Signale setzen“.
- Neue Verhaltensweisen: Es braucht mehr Aufklärung der Öffentlichkeit, damit sich „gesellschaftlich vorteilhafte Verhaltensweisen“ herausbilden.
- Neue gesetzliche Regeln: Sie sollen die Verantwortlichkeiten und Grenzen für Plattformen festlegen. Und der Wettbewerb soll gefördert werden.
Nice … Ich würde das Wunschdenken und Pfeifen im Walde nennen. Die Lage ist meines Erachtens schlimmer und desaströser. Letztlich räumt Autor Schwuchow dies auch selbst ein, indem er auf die verstärkende Wirkung kognitiver Verzerrungen eingeht, die ebenfalls schon lange in der Medienpsychologie bekannt sind, und die der Plattformökonomie in die Hände spielen:
- Novelty Bias (Neuheitshypothese): Unser Gehirn ist so gebaut, dass es primär auf überraschende und emotionale Reize reagiert.
- Illusory-Truth-Effekt (Scheinwahrheitseffekt): „Je öfter wir eine Aussage hören oder lesen, desto eher neigen wir dazu, sie für wahr zu halten, selbst wenn wir eigentlich wissen, dass sie falsch ist.“
- Confirmation Bias (Bestätigungsfehler): Wir tun alles dafür, unsere Vorurteile zu behalten.
- Belief Perseverance Bias (Glaubensverharrung): Wir suchen aktiv nach Informationen, die unsere Überzeugung bestätigen.
Zum Schluss berichtet Autor Schuchow vom Engagement Sinan Arals in der Erforschung von Mensch-KI-Teams. Nice …
Das „Paradies auf Erden“
Gefehlt haben mir im Beitrag aber Ausführungen über die aktuelle Verheiratung von Social Media und KI. Was das bedeutet? Da wird der TikTok-Verlauf von Jugendlichen (und anderen Usern) in KI gefüttert mit dem Ergebnis, dass diese nun in ihren (vermeintlichen) Motiven und Bedürfnissen völlig nackt vor dem Algorithmus stehen: Die KI kennt sie besser als sie sich selbst. Und es werden ihnen maßgeschneiderte Produkte – nur einen Klick entfernt und ohne, dass sie die Anwendung verlassen müssten – kaufbar und immer wieder in den Verlauf eingespielt, präsentiert. Das „Paradies auf Erden“ – für Unternehmen. Die Konsumenten hängen sozusagen an der Nadel …
Man könnte es auch das „Round-up“ für die humanistischen Ideale nennen: Da wächst jenseits der Algorithmen kein Gras mehr – wenn es sich nicht kommerziell vermarkten lässt.
Und der Gegenentwurf
Leena Simon, Philosophin, IT-Expertin und Autorin (Digitale Mündigkeit), redet im Gegensatz zu Aral Klartext („Was nützt den Menschen, was zaubert das Gute aus uns raus?“): „Es war von Anfang an ein schlechtes System, nur darauf ausgelegt, Profit zu machen. Und nun trägt es auch noch dazu bei, unsere Demokratie zu zerlegen.“ Und man kommt nicht mehr dagegen an: „Wer etwas anderes glaubt, hat die Architektur der Plattform nicht verstanden.“ Was wir tun können? „Zunächst mal müssen wir uns unserer Verantwortung füreinander und für unsere Kommunikation bewusst werden.“
Man könnte sich fragen: Warum nutze ich – unter miesen Vertragsbedingungen – beispielsweise WhatsApp? Wenn ich mir die Antwort gebe, „Weil das alle anderen auch tun“, habe ich den – schon in der Bibel nachzulesenden – sogenannten Netzeffekt entdeckt (Wer hat, dem wird gegeben). Ich bin der Sklave meiner Bequemlichkeit. Und auf der andere Seite: The winner takes it all!
Es gäbe Alternativen. Das Fediverse beispielsweise. Das ist ein nicht-kommerzieller Verbund von sozialen Netzwerken. Mastodon, Pixelfed, Bluesky etc. gehören dazu. „Es gibt keine Werbung und niemand trackt einen.“ Natürlich bräuchte es auch politische Rahmenbedingungen: offene Schnittstellen, Transparenz und öffentlich finanzierte Einrichtungen, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vergleichbar. Es gäbe eine Alternative: Wenn wir nicht so bequem wären … und dem Gewinner alles überlassen würden.
