INSPIRATION: Gesundheitsbewusste Menschen werden den Begriff vermutlich kennen: Herzratenvariabilität (HRV). Ich gehöre offenbar nicht dazu, aber bin natürlich neugierig. Gemeint ist eine Kennzahl, die misst, wie stark die Zeit zwischen zwei Herzschlägen schwankt. Unser Herz funktioniert nämlich nicht wie ein Metronom, bei dem, egal wir schnell der Puls ist, die Zeit zwischen zwei Schlägen immer genau identisch ist. Was bedeutet das?
Nun, unser Körper reagiert auf Belastungen, er wechselt zwischen Anspannung und Entspannung, und das offenbar sehr feinfühlig. Ist die HRV hoch, bedeutet das, der Körper reagiert flexibel auf Belastungen. Am konkreten Beispiel: Sind wir unter Belastung und unser Herz schlägt schnell, dabei mit einer hohen HRV, reagiert der Körper angemessen, er passt sich an. Ist bei hoher Puls die HRV aber niedrig, erleben wir Stress (Ausnahme: Beim Sport!). Ist der Pulsschlag gering und die HRV hoch, erholen wir uns. Eine geringe HRV ist also ein Alarmsignal.
Wie kann man das überhaupt erfassen? Mit einem Langzeit EKG. Das ist mit gewissen Kosten verbunden, aber einigen Unternehmen inzwischen offenbar das Geld wert. Sie bieten diese Untersuchungen bestimmten Mitarbeitenden im Rahmen des Gesundheitsmanagements solche Messungen an. Bestimmten bedeutet: „wichtigen“ Mitarbeitenden (Hör auf dein Herz). Mehr noch: Ganze Abteilungen (natürlich die wichtigen) oder Managementteams bekommen solche Messungen vom Arbeitgeber finanziert.
Daten statt Appelle
Was man damit bezweckt? Tatsächlich könnte man ja den Mitgliedern anhand der Daten aufzeigen, wie es um die allgemeine Gesundheit bestellt ist. Mal angenommen, bei allen Mitglieder eines Teams stellt sich heraus, dass sie schon gestresst am Arbeitsplatz erscheinen, in Meetings besonders belastet sind, auf dem Heimweg wieder unter Stress stehen und alles andere als erholsam schlafen – dann wäre das vermutlich überzeugender als ein Appell wie „Leute, achtet auf eure Gesundheit und legt meditative Pausen ein!“
Ich unterdrücke mal den Impuls, mich zu den datenschutzrechtlichen Gefahren zu äußern oder dazu, was es für Folgen haben könnte, wenn die Auswertungen in die Hände der Personaler geraten. Auch wenn hier natürlich erklärt wird, dass Daten zu einzelnen Mitarbeitenden nie preisgegeben werden. Stattdessen finde ich einen anderen Aspekt interessant, nämlich den der Plausibilität.
Atemübungen einplanen
Jedem wird auch ohne solche Langzeit-EKGs klar sein, dass es sehr nützlich sein kann, vor einem bedeutenden Meeting oder einer wichtigen Präsentation eine Atemübung durchzuführen. Und jeder, der auf der Heimfahrt vom Arbeitsplatz im Stau steht oder in regionalen Schienenersatzverkehr steckt, weiß, wie sehr diese Situationen seinem Nervenkostüm schaden. Und inzwischen wird sich auch herumgesprochen haben, dass ständige Unterbrechungen weder der Konzentration noch der emotionalen Befindlichkeit gut tun, also Phasen des ungestörten Arbeitens extrem wichtig sind, auch für die eigene Gesundheit.
Hilft dieses Wissen? Oft eher nicht. Dann kommen die Gesundheitsexperten, kleben uns Pflaster und Kabel auf die Brust und zeigen uns anschließen Verläufe mit roten und grünen Balken (rote an all den oben genannten Momenten eines Arbeitstages), und wir geraten ins Grübeln. Der moderne Mensch braucht eben Zahlen, Kurven und Balken, um ans Nachdenken zu kommen. Da ist die Idee, solche Messungen im Rahmen des Gesundheitsmanagements zu finanzieren, vermutlich eine gute. Dass man aus Kostengründen hier die angeblich „wichtigen“ Mitarbeitenden in den Fokus nimmt, kann man sicher kritisch sehen.
Wer nicht darauf angewiesen sein will, dass der Arbeitgeber zahlt, kann sich diese Daten offenbar inzwischen auch per Smartwatch, Ring oder Sensorband anzeigen lassen.