KRITIK: Ich mag die Kolumne von Rolf Dobelli zur „Kunst des guten Lebens“. Aber mit dem Tipp, sich eine „zweite Persönlichkeit“ zuzulegen oder einen inneren „Außenminister“ habe ich so meine Probleme. In „Die Authentizitätsfalle“ bringt Dobelli das Beispiel des Dates mit der „hyperauthentischen Lisa“. Diese stürzt den teuren Wein in einem Zug hinunter, weil sie furchtbar durstig ist und schläft vor dem Hauptgang ein. „Authentizität pur„.
Wirklich? Ist das gemeint, wenn allerorten gefordert wird, Führungskräfte sollten authentisch sein? Ich bin völlig einverstanden mit der These, dass wir selbst ja meist gar nicht wissen, wer wir genau sind und auch nicht genau wissen, was wir wollen. Und dass wir Menschen kaum respektieren würden, die jederzeit jedem Impuls folgen und ihre Bedürfnisse rücksichtslos ausleben.
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Dobellis Rat: Neben unserem „echten Selbst“ sollten wir uns eine zweite Persönlichkeit zulegen, eine „professionelle, konsistente und zuverlässige Haltung nach außen.“ Der Rest sei „für das Tagebuch, den Lebenspartner oder das Kissen reserviert.“
Echt? Heißt also: In meinem professionellen Leben bin ich höflich, rücksichtsvoll, verlässlich. In meinem Privatleben, z.B. gegenüber dem Partner, kann ich meine Bedürfnisse ungehemmt ausleben. Da stimmt doch was nicht, oder?
Menschen, die sich hemmungslos „authentisch“ verhalten (im Sinne von „ich mache und drücke aus, wonach mir grade ist“), sind eine Pein für ihre Umgebung. Vermutlich einigermaßen berechenbar, aber nervend und lästig.
Menschen hingegen, die das halten, was sie versprechen, zu dem stehen, was sie geäußert haben, ihre Meinung ehrlich äußern und sich dabei an die Regeln des Anstands halten, sind höchst angenehm im Umgang und verdienen in der Regel auch Respekt von allen Seiten.
Was aber, wenn letztere sich in einem anderen Umfeld völlig asozial verhalten? Wenn sie, sobald sie glauben, nicht mehr unter „Beobachtung“ zu stehen, ihre Prinzipien und jeden Anstand über Bord werfen? Würde man sie auch als „authentisch“ bezeichnen?
Ich habe Leute kennengelernt, die für ihre „Anhänger“ Idole waren, aber die sich bei näherem Kennenlernen alles andere als würdig erwiesen. Die mir übrigens ebenso unsympathisch sind wie jene, die sich nach außen (in der professionellen Rolle) rücksichtslos und kalt verhalten, aber im trauten Heim nett und empathisch sind („Eigentlich ist er ja ein total netter Mensch!“)
Daher wäre mein Verständnis von Authentizität, dass man sich in jeder Situation und in jedem Umfeld an seine Prinzipien hält, egal ob davon meine öffentlichen oder meine privaten Kontakte betroffen sind.
Vermutlich wird Dobelli mir da zustimmen, denn die Beispiele am Ende des Beitrages zeigen, was seiner Meinung nach nicht zu „authentischem“ Verhalten zählt: Wenn jemand sein Herz ausschüttet, seine Schwächen zur Schau stellt, Selbstzweifel äußert. Das ist es, was seiner Meinung nach in den privaten Bereich gehört.
Aber auch hier bin ich anderer Meinung. Ein Manager, der Selbstbewusstsein zur Schau trägt und voran marschiert, aber innerlich vor Angst zittert, fällt in das Bild des tragischen Helden. Wenn Politiker und Manager niemals Zweifel oder Unsicherheit zeigen, dann nehme ich ihnen das nicht ab und reduziere meinen Respekt. Dann weiß ich definitiv, dass sie eben nicht authentisch sind, und in meiner Fantasie male ich mir aus, wie es bei ihnen wohl zu Hause aussieht.
Und was verstehen Sie unter Authentizität?
