INSPIRATION: Das scheint in der Beratungswelt ein beliebtes Modell zu sein: Die persönliche Entwicklung, aber auch die von Teams, Unternehmen, gar die der ganzen Welt entwickelt sich stufenweise. Es gilt daher, Entwicklungsaufgaben zu meistern. Wenn man weiter kommen will (= next level).
Das ist sowas von Quatsch, sagt in der Organisationsentwicklung Autor Uwe Peter Kanning (Wackeliges Kartenhaus). Ein solches Statement, auch wenn es von einem bekannten „Ghostbuster“ kommt, lässt natürlich aufhorchen. Und Kanning geht das ganz locker an, wirft zunächst mal einen Köder ins Wasser: Maslows Bedürfnispyramide, Herzbergs Zwei-Faktoren-Theorie – kennt doch jeder … Ist aber Wissenschaftsschrott.
Angebissen? Dann folgt der kurze Ruck aus der Hüfte des Anglers Kanning: „Auch die Theorie der Entwicklungsstufen nach Graves lässt sich in diesen Kreis einordnen.“ Ja, aber … Zu spät! Der Autor ist schon dabei, die Veröffentlichungen Graves (er starb übrigens schon 1986) genüsslich auseinander zu nehmen. Da bleibt kein Stein auf dem anderen – beziehungsweise es wird schnell klar: Da passt sowieso kein Stein zum anderen.
Ein Sammelsurium
„Im Kern geht Graves davon aus, dass sich Menschen im Laufe ihres Lebens in einer bestimmten, universell gültigen Stufenabfolge entwickeln. Die Entwicklung kann dabei aufwärts oder abwärts voranschreiten.“ Doch wie er zu der Idee kommt, warum es diese speziellen Stufen geben soll – Kanning findet in drei Veröffentlichungen des Autors drei verschiedene Konzeptionen – bleibt unklar; wie auch die besondere Anordnung derselben. Hinzu kommt, Menschen sollen sich auch gleichzeitig auf mehreren Stufen befinden können. Ach, wie soll das denn gehen? Ich kürze das mal ab, obwohl es wirklich köstlich im Original zu lesen ist: Graves liefert keine Theorie, sondern fabuliert sich lediglich unlogisch und widersprüchlich ein Sammelsurium zusammen – dass es nur so quietscht.
Ja, aber … „Wer nun danach fragt, durch welche Studien die Theorie empirisch überprüft und im besten Falle untermauert wurde, stößt in ein Vakuum vor.“ Dabei hätte der Wirtschaftspsychologie-Professor durchaus ein paar Ideen zur Hand, wie man den „an die Wand genagelten Pudding“ doch noch vermessen könnte … Doch warum sich die Mühe machen: Die „Theorie (…) ist extrem unpräzise und in weiten Teilen nicht einmal plausibel“.
Doch das Vage und Unpräzise hat Vorteile: Man kann sich so hervorragend gegen Kritik immunisieren. Wenn man es auch noch schafft, sich in eine Märtyrerrolle zu manövrieren, bekommt man sogar noch den Mitleidsbonus des Publikums. Dann geht es nicht mehr um wissenschaftliche Genauigkeit, sondern – nur noch – um Mitleid/Sympathie. Um Glauben statt Wissen. Man schaue sich die fundamentalistischen, religiösen Sekten an. Andere „Bewegungen“ ließen sich leicht hinzufügen. Tendenziell heißt es dann: „Tschüss, Aufklärung! – Willkommen, Mittelalter“. Früher war eben alles besser … Und Wissenschaftler sind ja endweder weltfremde Nerds oder von der Wirtschaft bezahlte Strohmänner – das ist doch so klar wie Kloßbrühe (= Immunisierung gegen Kritik).
Die Vermarktung zählt
Das ist nämlich der Schlüssel zum Erfolg: Man kämpft erst gar nicht in der Arena der Wissenschaft. Man geht gleich auf den Markt der Ratgeberliteratur, in den Boulevard, an den Stammtisch. Mit viel Marketingdruck und richtig fettem Budget: Also laute Klappe, bunte Bilder und völlig überzogene Versprechungen – irgendwas wird schon hängen bleiben beim Publikum – von den „Levels of Existence“ (Graves), „Spiral Dynamics“ (Beck & Cowan) und wie deren Nachahmer alle so heißen. Und die Botschaft wird schon jemanden finden: eine oder einen Erlösungsbedürftige(n).
Und davon gibt es offensichtlich nicht zu wenige. Denn das Modell, auch wenn es noch so verschwurbelt sein mag, dockt doch an einem uralten Erlösungsmotiv an: Es gibt einen Weg raus aus dem Jammertal! Von unten nach oben (Stufen!). Die Wissenschaft nennt das: Teleologie. Man ist so besoffen vom Ziel, so im Tunnelblick, dass man weder links noch rechts guckt und alle Mühen und Kosten ausblendet. Wie heißt es so schön: Mit Verschwörungstheoretikern kann man nicht diskutieren. Weil es nicht um Argumente geht, sondern um Glauben.
Mal wieder ein schöner, lesenswerter Beitrag vom „Ghostbuster“. Übrigens geht es in einem kleinen Seitenhieb um die Frage, warum NLP (damit ist jetzt nicht die KI-Methode „Natural Language Processing“ gemeint) unwissenschaftlich ist (Woran erkennt man pseudowissenschaftliche Theorien …).
Danke für die Anregung lieber Thomas.
Als individual- und entwicklungspsychologische Theorie und Empirie sind Stufenmodelle unter der Sammelbezeichnung strukturgenetische Modelle allerdings gut erforscht und sehr beliebt. Ich empfehle einige Neo-Piagetians wie z.B. zunächst Loevinger, Kegan, Commons und in jüngerer Zeit in Deutschland auch Binder.
In der Organisationspsychologie werden die Herausforderungen der Mehrebenenforschung seit geraumer Zeit diskutiert. Zu ergänzen wäre die forschungshistorische und methodologische Problematik des oft in frühen Ansätzen notwendiger Weise vorherrschenden „Grand theorizing“ vs. dem Trend zu Microtheorien mit sehr begrenztem Aussagegehalt. Hier würde ich z.B. Beiträge von Mark Edwards empfehlen.
In der Organisationsforschung gibt es zudem natürlich trotzdem auch etablierte Stufenmodelle v a. unter der dem Stichwort evolutionäre Ansätze, die zu ganz ähnlichen Erkenntnissen kommen, wie der frühe Graves. Hier wäre z.B. zu nennen Greiner (1994). Evolution and Revolution as Organizations Grow.
Insgesamt ist bei aller auch berechtigter Kritik – und das gälte auch an ganz anderen weiterhin akademisch verbreiteten frühen Theorien – zu würdigen, dass hier Grundlagen geschaffen wurden, die zumindest als erkenntnisleitende Heuristiken und im Zusammenhang mit späteren Beiträgen anderer sehr wohl zu würdigen sind. Ich hoffe damit einen wenig wissenschaftspopulistischen und konstruktiven Beitrag zum Weiterdenken geleistet zu haben.