REZENSION: Rainer Mühlhoff – Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus. Reclam 2025.
Künstliche Intelligenz wird zurzeit mit einem messianischen Versprechen gepredigt. Es wird nicht nur eine disruptive Zeitenwende behauptet. Die Botschaft klingt vielmehr nach Endzeit. Der „Himmel auf Erden“, das Paradies ist im Anmarsch. Mit etwas Abstand betrachtet kommt man nicht umhin festzustellen, dass diese Botschaft mehr als 2.000 Jahre alt ist – und sich bislang noch nicht manifestiert hat.
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Starker Tobak? In der Tat. Nun kann man allerdings kaum die Augen davor verschließen zu registrieren, dass jüngst in den USA ein digitaler Staatsstreich stattgefunden hat. Elon Musks Sturmtruppe ICE überfiel – offensichtlich unter dem Segen des US-Präsidenten – an einem Wochenende staatliche Behörden, kaperte IT-Systeme und entließ unzählige Mitarbeitende. Zugleich mussten alle Hinweise auf Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion (DIE) aus öffentlichen Dokumenten getilgt werden. Autor Mühlhoff, Professor für Ethik und kritische Theorien der Künstlichen Intelligenz an der Universität Osnabrück, stellt diese Entwicklung in den Rahmen des Faschismus. Und erklärt zugleich, „dieser neue Faschismus sieht in vielen Hinsichten nicht exakt so aus wie seine historischen Vorbilder – doch gerade deshalb müssen die Kräfte, die ihn antreiben, frühzeitig als faschistisch erkannt werden.“
So stellen sich sogleich die Fragen, ob das berechtigt ist. Und welche Rolle spielt KI dabei? Die Antwort, die man schon in der Einleitung findet, lautet, die faschistischen Kräfte versuchen, „die spezifischen Möglichkeiten von Datenanalyse und KI-Technologie zu nutzen, um den Rechtsstaat und die freiheitliche demokratische Ordnung zu schwächen und durch ein schlankes, auf Automatisierung und Präemption (also algorithmische Vorhersage und Vorwegnahme) basierendes Staatswesen zu ersetzen.“
KI als gesellschaftspolitisches Instrument
Die politischen Strömungen, die sich derzeit in den USA nicht nur in der Meinungsführerschaft, sondern auch an den Schaltstellen der Macht befinden, lassen sich als eine Emulgation verschiedener, in die gleiche Richtung zielende Vektoren beschreiben: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus, Misogynie, Maskulinismus und White Supremacy sowie Nationalismus. Letztlich geht es diesen Gruppen (Alt-Right) um eine Rückabwicklung der philosophischen Aufklärung und der damit verbundenen politischen Überzeugungen (Demokratie) – und zwar mit Gewalt und Tücke (Abbau des Rechtsstaats). Hinzu kommt ein religiöser Fundamentalismus (die Bibel wird wörtlich verstanden) und eine Eugenik 2.0. Was hier nur skizziert wird, führt der Autor ausführlich über mehrere Kapitel aus.
Und hier kommt nun die KI ins Spiel. Sie erweist sich als Instrument der Automatisierung und der Kategorisierung. Insofern ist sie ein „perfektes“ Instrument – wie es schon die von IBM den Nationalsozialisten zur Verfügung gestellte Lochkartentechnologie (Hollerith) in den 1930er-Jahren war: Ein Machtinstrument. Autor Mühlhoff erklärt Künstliche Intelligenz in kurzen, aber präzisen Zügen. Wer hier tiefer einsteigen möchte, sei auf das Buch von Matteo Pasquinelli verwiesen (KI – es ist nicht drin, was draufsteht). Wie schon dieser Autor enttarnt auch Mühlhoff die Mythen, die sich um KI gebildet haben: Sie hat nichts mit Intelligenz zu tun und ist auch nicht künstlich. Sie wird völlig verklärt, gottgleich – auch durch ein geschicktes Framing. Doch ihre Basis besteht aus riesigen, von den Tech-Konzernen geraubten Datensätzen aus Social Media, Cloud-Speichern und privaten wie öffentlichen Quellen, die in den Händen weniger Monopolisten zentralisiert und nun statistisch ausgewertet – gegen ihre ursprünglichen Eigentümer funktionalisiert werden.
Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit
KI erlaubt „eine gänzlich neue Form der kapitalistischen Wertschöpfung“. Weil der Begriff der Wahrheit durch den der Wahrscheinlichkeit abgelöst wird. Autor Mühlhoff beschreibt dies unter der Überschrift „Von der Fallprüfung zur Fallwette“ anschaulich in einem Gedankenexperiment: Der Rechtsstaat basiert auf Gesetzen und der regelfallbasierten Einzelfallprüfung (inkl. Ermessensspielraum). „Dieses Verfahren ist aufwendig und schlecht skalierbar, aber transparent.“ Zudem steht jedem Bürger der Rechtsweg offen.
Die Alternative besteht in einer „erfahrungsbasierten“ Variante: Keine Einzelfallprüfung. Die Entscheidung wird induktiv, statistisch, also sortiert nach Wahrscheinlichkeiten, getroffen. Das ist weniger aufwendig und schnell. Aber fehleranfällig. Und jetzt kommt eine entscheidende Stellschraube ins Spiel: Man kann die interne Qualitätssicherung reduzieren oder so verändern, dass sie weniger Fehler sehen will. Und wir können den externen Rechtsweg erschweren, verteuern, blockieren. Mit dem Ergebnis, dass immer weniger Bürger verstehen, was da mit ihnen geschieht, die Hürden für sie zugleich so erhöht werden, dass sie sich den Gang durch die Institutionen nicht leisten können/mögen, weil sie ja arm und weniger gut gebildet sind … und schon optimiert sich das System von selbst.
KI als Herrschaftsinstrument
Nach außen verkauft man das als „Bürokratieabbau“: Bürokratie sei doch nur woke Prinzipienreiterei, die den Fortschritt aufhält. Weg damit! – Den Rest kann man sich leicht an den fünf Fingern einer Hand ausrechnen: Politische „Querulanten“ lassen sich leicht herausfiltern, queere und andere, nicht der herrschenden Meinung entsprechende Personen, Migranten etc. pp. wissen nun, welches Stündlein ihnen geschlagen hat. Denn, siehe oben, die Agenda des neuen Faschismus ist klar und hart. Menschen- und Grundrechte stehen ihnen nur im Weg.
Es ist definitiv eine Dystopie, die der Autor hier entwirft. Doch sie ist stringent entwickelt und beängstigend. Und wirft die Frage auf, wollen wir unsere Seele an dieses System verkaufen? Was würde denn dagegen helfen? Die erste Erkenntnis, die der Autor bereithält, lautet: Lassen wir uns nicht überrumpeln. Wachen wir auf und informieren wir uns. Die zweite: Alternativen ausmalen. Statt eines tausendjährigen Reichs haben wir Zukünfte (Plural). Lassen wir uns diese entdecken und gestalten. Drittens: Wir brauchen mehr Regulierung von KI, nicht weniger. Lassen wir uns auf diesem europäischen Weg nicht beirren.
Es ist definitiv eine Streitschrift, die der Autor vorlegt. Sie ist stringent, allgemein verständlich und für wenige Euro verfügbar. Es ist die politische Ebene. Die inhaltliche Ebene, wie man mit und trotz KI gut arbeiten kann, wäre noch einmal eine weitere Veröffentlichung wert.
