PRAXIS: Der folgende Fall stammt aus einem etwas ungewohnten Umfeld – für mich aber nur allzu vertraut. Und ich finde, wer sich auf dem Gebiet der Konfliktbearbeitung tummelt, kann hier eine Menge profitieren. Worum geht es?
Eine Mediatorin berichtet von ihren frustrierenden Erlebnissen, wenn sie von einer ganz bestimmten Zielgruppe angesprochen wird: Von Wohnprojekten (Irgendwer will immer). Gemeint sind Gruppen von Menschen, die eine gemeinsame Wohnform gewählt und erschaffen haben, in der sie sich als Nachbarn zusammenschließen und sich in der Regel selbst verwalten. So etwas schweißt zusammen (das kann ich bestätigen), aber natürlich kommt es auch in solchen Gruppen zu Konflikten. Die zudem deutlich komplexer sind als die zwischen zwei Einzelpersonen.
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Warum frustrierend? Weil sie immer wieder ähnliche Anfragen erreichen: Es geht um Konflikte zwischen mehreren Parteien, wobei es einige direkt Beteiligte, aber auch einige nur indirekt beteiligte Personen gibt. Im Grunde aber ist die ganze Gruppe irgendwie betroffen. Dann schlägt die Mediatorin eine Art Workshop-Format vor (nach dem Modell der Klärungshilfe), macht deutlich, dass so etwas nicht in wenigen Stunden zu lösen ist – und hört nie wieder etwas von den potenziellen Auftraggebern.
Fragt sie nach, erfährt sie, dass sich die Gruppe nicht einigen konnte, den Auftrag zu erteilen. Anders als in Unternehmen gibt es dort nicht den einen Chef oder Teamleiter, der eine Mediation in Auftrag gibt. Und der dann die Teilnahme der betroffenen Teammitglieder anweist. Die Konflikte aber bleiben, und sie sind existenziell: Denn letztlich geht es für viele um nicht weniger als um das Platzen eines Traums. Und um die Gefährdung eines Grundbedürfnisses: Das Dach über dem Kopf.
Shuttle-Mediation – keine Alternative
Was also tun, um doch einen Auftrag zu bekommen? Eine Möglichkeit: Einzelgespräche anbieten (Shuttle Mediation). Die Autorin konnte sich dazu nicht durchringen, aus guten Gründen: Zum einen wird in Einzelgesprächen jeder versuchen, die Mediatorin auf die eigene Seite zu ziehen – und vermuten, dass es die anderen genauso machen. Zum anderen hilft es wenig, wenn die Mediatorin eine Teilnehmerin versteht – was zählt ist, dass die Konfliktparteien sich gegenseitig verstehen. Interessantes Argument Nr. 3: Das Dampf-Ablassen im Einzelgespräch ist Energieverschwendung, die Energie fehlt dann später, wenn es darum geht, mit den anderen Parteien ernsthaft zu diskutieren („Habe ich doch alles schon erklärt!“).
Eine Shuttle-Mediation ist dann sinnvoll, wenn die Trennung bereits beschlossene Sache ist – dann helfen die Einzelgespräche, dass keine schmutzige Wäsche gewaschen wird und kräftig nachgetreten wird. Wenn aber Menschen noch zusammenbleiben sollen, müssen sie miteinander reden. Nur wie bekommt man sie dazu?
Distanz hilft
Die Lösung: Ein Online-Treffen mit allen Beteiligten. Klingt nicht sonderlich innovativ? Abwarten. Zunächst ist der Aufwand geringer, die Bereitschaft, dafür auch zu bezahlen, etwas höher. Klar ist aber auch, dass ein zweistündiges Meeting vor dem Bildschirm nicht zur Beilegung des Konfliktes führen wird. Was es dann bringen soll? Die Antwort der Mediatorin: Mehr Klarheit als vorher. Nicht 100%ige Klarheit, auch keine Versöhnung. Aber vielleicht so viel Klarheit, dass Versöhnung wahrscheinlicher wird.
Was dann passiert, ist eine Auftragsklärung mit allen Beteiligten. Was wiederum wunderbar zur Gruppe passt: Wenn alle entscheiden, ob ein Auftrag erteilt wird, dann müssen auch alle bei der Klärung des Auftrags dabei sein. Wie läuft das Meeting ab? Es gibt eine Runde, in der jeder zwei Fragen beantwortet und bei der jeder ausreden darf. Niemand unterbricht, niemand kommentiert. Die Fragen lauten: „Wie lange wohne ich schon hier? Allein, zu zweit, mit Familie?“ Und dann: „Was sind meine persönlichen Hoffnungen und Bedenken im Bezug auf das weitere Vorgehen im Konfliktfall?“
Die Reihenfolge ergibt sich von selbst, wer sprechen möchte, meldet sich. Bis jeder an der Reihe war. Fragen an die Mediatorin zu ihrem Vorgehen beantwortet diese direkt. Sie fragt, ob diejenige etwas mit ihrer Antwort anfangen kann, und wenn ja, was. Sie stellt auch Nachfragen – und sorgt so für das, was erreicht werden sollte: Für mehr Klarheit.
Zeit geben
Am Schluss werden alle gebeten, in Ruhe über das Erlebte nachzudenken, sich bei Fragen zu melden und sich zu überlegen, ob sie an einer gemeinsamen Klärungssitzung teilnehmen möchten. Und siehe da: Der Auftrag kommt zustande. Erklärung der Autorin: Der Erfolgsfaktor war, dass es gelungen ist, in der gemeinsamen Auftragsklärung „Vertrauen zur Beraterin aus der sicheren Zoom-Distanz heraus“ aufzubauen.
Nachvollziehbar, wie ich finde. Jede Beteiligte befindet sich in den eigenen (sicheren) Räumen, kann jederzeit aussteigen oder sich zumindest stummschalten – was in einer Präsenzrunde deutlich schwieriger ist. Und so ungewohnt die Distanz bei Online-Meetings auch mitunter ist – hier wäre die Nähe zwischen den Konfliktparteien vermutlich eher störend gewesen. Spannend!
