INSPIRATION: Seit Jahrzehnten lesen wir die immer gleichen „Erkenntnisse“ über nonverbale Kommunikation. Über Körpersprache, Emotionsausdruck, Mimikry und den persönlichen Raum. Aber was ist – wissenschaftlich betrachtet – dran?
Wenig … sehr wenig! So die Autoren (Four Misconceptions About Nonverbal Communication). Das darf man getrost als eine „Hammer“-Nachricht bezeichnen. Denn eine gigantische Trainings- und Ratgeberindustrie lebt schließlich von diesen „Erkenntnissen“, die sie seit Jahren mit enormen Werbedruck ins öffentliche Bewusstsein pumpt. Soll sie nun die Segel streichen?
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Es geht im Detail darum, dass wir angeblich die Körpersprache anderer lesen können. Darum, dass wir den Kontakt mit anderen angeblich über einen stabilen persönlichen Raum regulieren. Und es geht darum, dass sich in unseren Gesichtsausdrücken angeblich universell gültige Emotionen spiegeln. Und zuletzt, dass wir angeblich Gesichter lesen können – wie ein offenes Buch. Schauen wir uns die Argumentationen – und vor allem – die dazu gehörenden empirischen Befunde einmal genauer an.
Die Erde als Scheibe
Über das Thema haben sich schon die „alten Griechen“ ausgelassen und den Nachgeborenen damit eine Hypothek vermacht, die man – schaut man genauer hin, bei vielen anderen Ideen ebenfalls – als schweres Erbe bezeichnen mag. Sie wirken bis heute als sogenanntes Allgemeinwissen, manchmal sogar als „gesunder Menschenverstand“ weiter, der sich nur zu oft gegen Kritik immunisiert hat. Das heißt, man lässt sich kaum mehr durch wissenschaftliche Erkenntnisse erschüttern: Die Erde ist halt eine Scheibe, das sieht doch ein/e jede/r. Nun, stimmt ja auch, jedenfalls bis zum begrenzten (eigenen) Horizont …
Beim Thema Emotionen und Körpersprache lässt sich ein Meilenstein vor 150 Jahren ausmachen: Charles Darwin veröffentlichte sein Werk „The Expression of the Emotions in Man and Animals“ (1872). Das weckte das wissenschaftliche Interesse an nonverbalem Verhalten. Doch bis zur systematischen Erforschung des Themas dauerte es fast ein Jahrhundert. In den 1950er- und -60er-Jahren erlebte das Thema einen Boom, der bis in die jüngste Zeit anhält. Doch sollte es sich um liebgewonnene Vorurteile handeln?
Irrglaube Nr. 1: Wir kommunizieren mit Körpersprache
Die Körpersprache sagt, obwohl sie indirekt ist, mehr über einen Menschen aus als seine Worte. So lautet die Überzeugung, die sich seit den 1970/80er-Jahren etabliert hat. Und deshalb beobachten Kommunikatorinnen von Berufs wegen wie Journalisten, Führungskräfte und Kommunikationstrainer*innen andere, Politiker:innen, Angeklagte, Sportler/innen, serienmäßig und fällen dann ihre Urteile: „Man sieht es ihnen doch an!“
Es hat sich daraus eine „Körpersprache-Industrie“ entwickelt: Mit Ratgeberbüchern, Videos, Seminaren. Und seit der Social-Media-Explosion in Coronazeiten hat sich der Trend exponentiell vervielfältigt. Die Botschaft lautet: Lerne die Körpersprache zu entschlüsseln, und du wirst Liebe, Reichtum und Ruhm finden! Oder – andersherum betrachtet – potenzielle Terroristen, untreue Ehemänner oder halbseidene Gebrauchtwagenhändler entlarven.
Doch sogenannte Körpersprache ist keine Sprache – das hätte man schon von Paul Watzlawick und Kollegen (Menschliche Kommunikation) lernen können. In der verbalen Sprache haben Wörter relativ klare Bedeutungen. Nonverbale Verhaltensweisen sind Interpretationssache. Es fehlt der nonverbalen Kommunikation auch die Syntax. Zudem bestimmt der Kontext, die Situation, die Bedeutung der Kommunikation stark. Es gibt keine allgemeingültigen Codes der Körpersprache. Je nach Kontext – und den kann man sich auch nicht immer aussuchen – wirken nonverbale Verhaltensweisen anders; bis hin zur Karikatur. Die Autoren bringen ein markantes Beispiel: „Ein Lächeln in Richtung des Chefs auf dem Büroflur kann als Einschmeicheln gemeint sein, während dasselbe Lächeln in Richtung eines Kollegen ein Flirt sein kann.“
Besonders offensichtlich wird die Bedeutungen nonverbaler Verhaltensweisen im Rahmen von Online-Kommunikation (Digitale Führung: Ohne Körper und Gender?) oder in der Virtual Reality („Hier kommt Alex“). Dass und wie Sprache und Leiblichkeit zusammenhängen, ist eben viel differenzierter zu betrachten (Da sagst Du was …).
Irrglaube Nr. 2: Menschen haben einen stabilen persönlichen Raum
Jeder kennt das: Andere können uns zu nahekommen, uns „auf die Pelle rücken“. Wir ziehen uns dann zurück. Seit über 100 Jahren bezeichnet man das als Verletzung des persönlichen Raums. Es gibt seit den 1960er-Jahren unzählige – nicht nur wissenschaftliche – Veröffentlichungen zum Thema.
Grundsätzlich müsste zwischen einem subjektiv wahrgenommenen persönlichen Raum und einer objektiv messbaren sozialen Distanz unterschieden werden. Häufig wird beides in eins geworfen. Doch die Analogie eines persönlichen Raums (eine mich umgebende Blase) ist viel zu simpel gedacht. Denn sie impliziert eine unveränderliche, stabile Grenze. Die es aber nicht gibt, weil sie abhängig von Personen und Situationen (soziale Rollen) ist.
Zudem kann ich unangenehme Nähe – jemand setzt sich neben mich in der Straßenbahn – kompensieren: Durch Nichtbeachten oder Wegschauen. Zahlreiche Faktoren wie Umgebung, Erwartungen, Persönlichkeit, Kultur, Geschlecht und externe Anreize moderieren eben das Verhalten und Erleben – und zwar dynamisch.
Irrglaube Nr. 3: Wir haben grundlegende Emotionen
Die Idee, dass man Gesichter lesen könne, und somit das Innenleben von Menschen verstünde, hat eine lange Geschichte, die bis zu den „alten Griechen“ zurückreicht. Popularisiert wurde sie jedoch von Charles LeBrun, dem Hofmaler von Ludwig XIV. Er fertigte stilisierte Gesichter für bestimmte „Leidenschaften“ an. Das lebt fort in den heute populären Theorien der Basisemotionen (BET) – wie sie beispielsweise der berühmte Emotionsforscher Paul Ekman in den späten 1960er-Jahren aufgestellt hat.
Mit Rückgriff auf Darwin postulierte Ekman sechs universelle Emotionen. Für jede Emotion ist ein eigenes ikonisches (=statisches) Gesicht typisch. Durch seine Studien in Papua-Neuguinea fühlte sich Ekman bestätigt: Diese Emotionsausdrücke sind universell, kulturunabhängig gültig. Sein Konzept wurde schnell sehr populär und findet auch heute noch Anwendung, beispielsweise beim Training von KI. Doch Ekmans Studien und die darauf basierenden Schlussfolgerungen wurden in der Folge methodisch kritisiert. Der Rückschluss vom Gesichtsausdruck auf eine zugrundeliegende Emotion, so die Kritik, ist spekulativ.
Andersherum wird aber ein Schuh draus: Gesichter, die als Ausdruck von Emotionen verstanden werden, sind in Wirklichkeit paralinguistische Formen der sozialen Beurteilung und Bewertung. Die Autoren bringen ein Beispiel: Wenn Sie eine Freundin fragen: „‚Wie war der Film?‘, ist es unwahrscheinlich, dass ihr Lächeln oder Stirnrunzeln etwas mit einem inneren Zustand zu tun hat; es geht um den Film.“
Stattdessen machen wir aus unseren Wahrnehmungen selbsterfüllende Prophezeiungen. Man könnte das einen mentalen Kurzschluss nennen. Zudem funktioniert der umgekehrte Weg – Provokation einer spezifischen Emotion und Korrelation des so evozierten Gesichtsausdrucks – nicht zuverlässig. Ekmans Theorie gilt längst als widerlegt.
Fridlund entwickelte in den 1990er-Jahren die verhaltensökologische Sichtweise des menschlichen Gesichtsausdrucks (BECV). Diese basiert auf vier Maximen:
- Gesichter sind soziale Werkzeuge, mit denen Menschen ihre sozialen Interaktionspartner beeinflussen.
- Auch Gesichtsausdrücke, die wir in verschiedenen Alltagssituationen „nur für uns selbst“ machen, haben eine implizit soziale Funktion.
- Jeder menschliche Gesichtsausdruck spiegelt zudem die Kultur wider. Es kann keine Allgemeingültigkeit vorausgesetzt werden.
- Der postulierte Zusammenhang zwischen Emotionen und Gesichtsausdrücken ist vermutlich gar nicht überprüfbar.
Wenn wir Begegnungen mit anderen aushandeln, sind unsere Verhaltensweisen offensichtlich vielfältiger, kontextabhängiger und flexibler als früher gedacht. Es sind dynamische Interaktionen. „Wir schlagen vor,“ so die Autoren, „dass Emotionen vielleicht nicht der beste Weg sind, um zu verstehen, was wir mit unseren Gesichtern tun.“ – Eine erstaunliche wissenschaftliche Wende um 180 Grad. Die auch längst von anderen Forschern wie Luc Ciompi (Die emotionalen Grundlagen des Denkens) oder Lisa Feldman-Barrett (Zwei menschliche „Betriebssysteme“?) vollzogen wurde.
Irrglaube Nr. 4: Der Körper lügt niemals
Es wird behauptet, und auch das vermutlich seit ungefähr 3.000 Jahren, dass markante, identifizierbare nonverbale Verhaltensweisen zuverlässige Indikatoren für Täuschung sind. Sie zeige sich durch eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Inhalt und dem nonverbalen Verhalten des Sprechers. Werde diese, mittels „Lügendetektor“, erkannt, könne man diese für seine Entscheidungen nutzen.
Diese Vorstellung ist inzwischen fester Bestandteil der westlichen Populärkultur geworden und hat auch hochsensible Bereiche wie die globale Terrorismus- und die Spionageabwehr durchdrungen. Die Autoren sprechen von einer milliardenschweren Industrie. Die jedoch einer wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Wissenschaftliche Studien zu verdächtigen nonverbalen Verhaltensweisen sowie zur Mimik (Microexpressions) konnten – das zeigen etliche Studien und Metaanalysen – keine validen Effekte aufzeigen. Man kann daher, wie das die Autoren machen, auch von Pseudowissenschaft sprechen (NLP als Pseudowissenschaft).
Es finden sich schlicht keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der stressauslösenden „Versuchsanordnung“ und dem Täuschungsurteil – dafür allerdings sehr viele Spekulationen, die durch ein Macht-Setting (der Verdächtigte und sein Richter) noch beflügelt werden. Doch „Menschen können gestresst sein, nicht weil sie lügen, sondern weil sie fürchten, dessen beschuldigt zu werden (zu Recht oder zu Unrecht), sich über die Tatsache ärgern, dass sie dessen verdächtigt werden, oder einfach nur verunsichert sind, weil man sie deswegen in Verlegenheit bringt.“
Und die Moral von der G’schicht?
Das Fazit all dessen hat mich persönlich nun nicht wirklich überrascht: Die Autoren plädieren für einen „systemischen“ Forschungsansatz. Womit sie eine Perspektivenerweiterung der Forschung in räumlicher und zeitlicher Art meinen: Räumlich – was ist der Kontext und was passiert in ihm? Und zeitlich – wie gestaltet sich der Prozess der Interaktion? Das ist doch schon einmal ein Fortschritt – wenn ich mich so umschaue, ist eine solche Orientierung im sozialwissenschaftlichen Mainstream noch eher die Ausnahme. Bis zu einem systemtheoretisch fundiertem Forschungsparadigma wären es dann aber noch ein paar Kilometer mehr zu laufen …
Nachdenklich stimmen mich allerdings die Bemerkungen zur langen Tradition simpler Mythen, die sich auch in die Wissenschaft reingefräst haben – und dann dort „geadelt“ wurden und überlebt haben. Es dauert offensichtlich, bis solche Vorurteile erkannt, widerlegt und veröffentlicht werden. Ob das aber reicht?
Die Autoren benennen hellsichtig die Macht einer milliardenschweren Meinungsindustrie aus Youtube-Influencern, Ratgeberautor:innen, Trainern und Coaches. Sollen die ab morgen nun alle schweigen? Oder Asche auf ihr Haupt streuen? Womit wollen sie stattdessen ihre Brötchen verdienen? Haben sie überhaupt noch etwas anderes gelernt? Und gibt es nicht auch die entsprechenden Erwartungen auf der „anderen Seite des Schreibtischs“: Bei den Personalentwicklerinnen, Führungskräften, Mitarbeitenden bis hin zu „Otto Normalverbraucher“. Sie werden doch nicht die Finger von dem leckeren, fetten und salzigen, aber ungesunden Fraß lassen wollen! Wir Menschen glauben lieber, was wir glauben wollen … Die Erde als Scheibe ist einfach zu praktisch.