KRITIK: Werte werden immer gelebt – so wie Kultur. Dem kann man sich nicht entziehen. Doch Führungskräfte können unzufrieden sein mit dem Status quo. Der soll sich ändern. Also beginnt man ein Umerziehungsprogramm.
„Wie können Unternehmenswerte im Alltag tatsächlich gelebt werden?“ fragen sich die Autorinnen (Werte erleben). Und mit einer solchen, schlechten Frage fängt das Elend in Unternehmen dann so richtig an. Denn die Frage impliziert doch, dass die Werte derzeit nicht gelebt werden. Dass man etwas dafür tun, also nachhelfen muss. Und zwar „jenseits von Plakaten und PowerPoint-Präsentationen“. Fast schon hätte ich gelästert: Mit der Brechstange. Na ja, die etwas abgemilderte Form davon präsentieren uns die Autorinnen in ihrem Beitrag.
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Die Ist-Analyse offenbart einen schwindenden Zusammenhalt und eine hohe Fluktuation (rund 35%). Na, sowas … soll vorkommen. Der Employee Net Promoter Score (Eine Frage reicht) ist negativ. Dass der eNPS negativ wird, habe ich noch nie gelesen. Geht definitionsmäßig gar nicht. Aber man muss ja auch nicht alles wissen, wenn man Geschäftsführerin ist. Konkret meint es wohl: „Viele Mitarbeitende verharrten weiterhin im Homeoffice, obwohl die offiziellen Corona-Regelungen bereits aufgehoben waren.“
Unter Toolklempnern
Da muss sich was ändern! Und „was“ meint die „Kultur“. Der alte Sündenbock. Das ganze Management Board war sofort begeistert: „ein Kulturprojekt, das konsequent vom Menschen her gedacht wurde“. Ich stutze schon wieder: Wovon sonst, sollte man denken, wenn nicht vom Menschen her? Nun gibt es Wissenschaftler und Berater, die sagen: von den Strukturen her (Du sollst nicht an der Unternehmenskultur schrauben!). Als ob man das so fein säuberlich trennen könnte …
Bei flaconi entwickelte man ein Value-House-Konzept: „ein spielerisch aufgebautes, aber klar strukturiertes Jahresprogramm“. Die fünf Unternehmenswerte – wo die wohl herkommen? – lauten: #Trustinpeople, #Embracechange, #Buildfast2last, #Livingdata und #CustomerCentric. Und die werden nun einzelnen Häusern zugeordnet, nebst Farbcode und Icon. Und die Mitarbeitenden werden diesen Häusern zugeordnet.
Sie reiben sich die Augen? Ich mir auch. Weil: #Trustinpeople und Zuordnung, könnte sich doch reiben. Und #Trustinpeople und #CustomerCentric: Wer damit wohl gemeint ist? Der Kunde? Oder auch der Mitarbeitende? Und wenn es da mal Konflikte gibt? Und wenn ich dem Haus #Buildfast2last zugeordnet werde, muss ich mich dann um #Embracechange nicht kümmern? Denn ich bleibe in diesem Haus für die Dauer meiner Betriebszugehörigkeit. So wie in der Schulklasse oder in der Kindergartengruppe.
Gamification
Es wird noch toller: Jedes Mitglied des Management Boards leitet als „House Master“ ein Value House. Und diese kämpfen jährlich gegeneinander. „Durch die Teilnahme an definierten Aktivitäten, Spielen und Wettbewerben sammeln die Mitglieder Punkte für ihr House.“ Erste Frage: Warum? Zweite Frage: Was machen wir mit den Verlierern? Mitarbeitende und Manager machen sich folglich zum „Affen“: Sie stehen in Sportanzügen ihrer House-Farbe auf der Bühne und lassen sich zum Sieger küren. #Buildfast2last hat gewonnen, #Embracechange guckt in die Röhre.
Das Spiel hat Grenzen, könnte man in Abwandlung eines TV-Klassikers kommentieren. Aber warum, hatte ich gefragt. Weil man’s kann, lautet die Antwort: „Die durchschnittliche Altersstruktur der Mitarbeitenden liegt bei rund 34 Jahren, was eine grundsätzlich hohe Aufgeschlossenheit gegenüber spielerischen, digitalen und innovativen Formaten begünstigt.“ Ob das sinnvoll ist, bleibt offen. Denn man könnte – und sollte wohl auch besser – die strategische Frage eines Gamification-Ansatzes sorgfältiger, auch bezüglich „Risiken und Nebenwirkungen“ betrachten (Spaß oder Ernst?).
Die Verlierer
Im Laufe des Beitrags wird dann noch die Zusammensetzung der Haus-Crews geklärt: Das soll nämlich nach der Maxime der Diversität geschehen. Das Ding mit der „‘magischen Formel‘: Eine verspielte Kombination aus Lieblingsessen als Kind, Geburtsort (Pluto-Location), Geolocation zum Gründungszeitpunkt von flaconi und Vorname“ erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.
Wichtig ist natürlich das Dashboard, auf dem 14-täglich die Punkteverteilung visualisiert wird. Woher kommen die Punkte? Die aggregieren sich aus Kennzahlen: LinkedIn Learning, Trainings, Feedback-Tools oder Quizteilnahmen. Und dann gibt es da noch den jährlichen Value Day, „Herzstück der kulturellen Erlebniswelt“. Offensichtlich so eine Art „Phantasialand“. Ein zweites Event heißt Value-Olympics. Man kann auch mit der Teilnahme an externen Veranstaltungen wie der Firmenlauf-Serie B2Run das Hauspunktekonto pimpen. Von Para-Olympics habe ich nichts gelesen … Aber eigentlich ist jeden Monat etwas anderes los. Da könnte man sich auch fragen: Und wann arbeiten die?
HR-Programm
Früher sind die Leute zum Teambuilding in den Hochseilgarten gefahren. Heute beginnen sie schon Recruiting und Auswahl mit dem Thema Werte und beenden dann den Lifecycle mit dem Perfomance-Dialog. Da kann ja nix mehr schief gehen. Man läuft die ganze Zeit am Händchen und bekommt, wenn man brav war, ein Leckerli. Supi!
„Die Fluktuationsrate sank deutlich von über 35 auf 5 Prozent, unser eNPS stieg von -15 auf 32.“ Da schau an … Ich Miesepeter habe offensichtlich die falschen Werte internalisiert. Doch bei flaconi ist man auch ein wenig selbstkritisch: Mit dem kompetitiven Ansatz hatte man es offensichtlich etwas übertrieben. Und das HR-Team ächzte, denn das Programm will gepflegt werden. Und wenn dann mal eine Nachfrage kommt, von wegen gerechter Bewertung, kann man sich leicht vorstellen, dass da die eine oder der andere in Erklärungsnöte geraten kann. Tja, wie heißt es so schön bei Goethe: Besen! Besen! Seids gewesen!
Folglich lautete die Erkenntnis: strip it! Der Fokus liegt demnächst mehr auf gemeinsamen Erlebnissen, Spaß und Zugehörigkeit. Oder in den Worten der Autorinnen: „Statt Quantität setzen wir stärker auf Qualität in der Verbindung zu unseren Werten.“ Aha … Tja, den Umweg hätte man sich sparen können, wenn man zuvor seine Hausarbeiten gemacht hätte. Also ein wenig Fachliteratur konsultiert hätte oder bei MWonline zum Thema Unternehmenswerte gesucht hätte.
Doch das scheint bei flaconi keine Option zu sein. Man will das Konzept „Value House“ weiter konsolidieren. Sinnvollere Maßnahmen, wie sie an andere Stelle, basierend auf einer theoretisch anspruchsvollen und empirisch überprüften Konzeption abgeleitet werden (Am Lagerfeuer), wird man bei flaconi daher wohl in absehbarer Zeit nicht zu Gesicht bekommen. Warum auch, wenn das mit der Kindergartennummer in diesem Unternehmen doch offensichtlich funktioniert?