INSPIRATION: Haben Sie sich schon mal dabei ertappt, dass Sie einen Gegenstand für Ihr Unglück verantwortlich gemacht haben? Nach dem Muster: Sie stoßen mit dem Schienbein an einen Stuhl und beschimpfen ihn? Das ist nur allzu menschlich, erklärt Klaus Eidenschink in einer weiteren Folge zum Thema „Liebe Konflikte“ (Wer hat Schuld?). Und die hat es in sich. Es geht um das Thema, das wir alle seit unseren Kindertagen kennen: „Wer hat angefangen?“
Warum ist uns das so wichtig? Sobald etwas schief läuft, fragen wir instinktiv nach einem Schuldigen. Und den hoffen wir zu finden, indem wir die Zeitdimension des Konflikts nutzen und uns in den Erklärungsmodus begeben. Warum tun wir das? Konflikte sind eine sehr komplexe Angelegenheit, und die Suche nach dem, der Schuld hat oder der angefangen hat, soll uns helfen, diese Komplexität zu reduzieren, überschaubar zu machen. Wenn wir geklärt haben, wer mit dem Schlamassel begonnen hat oder den ersten Fehler gemacht hat, hoffen wir, dass uns dies unmittelbar zur Lösung führt.
Aber wir sind nicht vor Gericht (und dort ist es auch alles andere als einfach, die Schuld eindeutig zu klären). Vor allem aber: Wir Menschen haben noch eine weitere Eigenschaft, die das mit der Schuld extrem schwierig macht: Wir wachsen alle mit Schuldgefühlen auf, d.h. wir steuern uns selbst mit Hilfe von Selbstvorwürfen. „Und wer sich bereits selber Vorwürfe macht, möchte gewiss nicht auch noch welche von außen bekommen.“ Wie reagieren wir dann? „Der andere hat angefangen!“ Womit wir uns am linearen Pol des Erklärungsmodus befinden.
Der lineare Pol des Erklärungsmodus
Dieser ist praktisch und hat gleich mehrere Vorteile. Er verschafft uns seelische Erleichterung. „Gott sei Dank ist jemand anderes Schuld!“ Aber mehr noch: Wir können uns auf der moralischen Ebene überlegen fühlen und damit „neutrale Seiten in die Parteilichkeit zwingen“. So wie Eltern auf die eigene Seite gezogen werden: „Mäxchen, gib Ihr das Spielzeug wieder, sie hatte es zuerst!“ Und schon hat der Konflikt nicht nur die beiden Parteien am Wickel, sondern auch noch weitere, zuvor unbeteiligte.
Was ist der Gegenpol zum linearem? Der zirkuläre, an ihm schauen wir auch auf den eigenen Anteil an der Auseinandersetzung. Mehr noch: Es geht nicht nur darum, welchen Anteil die Konfliktparteien daran haben, sondern auch die „sozialen und strukturellen Umwelten“. Und sogar unbeteiligte Dritte, die sich nicht eingeschaltet haben und den Konflikt eigentlich hätten verhindern können. Dass eine solche Betrachtung weitaus komplexer und aufwändiger ist, leuchtet unmittelbar ein. Sie wird der Komplexität des Geschehens gerechter.
Ist sie damit der linearen also immer vorzuziehen? Wer die Serie verfolgt oder das Buch gelesen hat (Die Kunst des Konflikts), ahnt, was jetzt kommt: Natürlich nicht. Auch der lineare Pol hat seine Berechtigung. Es gibt nämlich durchaus Situationen, in denen es alles andere als hilfreich ist sich zu fragen, welchen Anteil man selbst am Geschehen hat. Genannt wird der gewalttätige Partner, der übergriffige Kollege, der seine Macht missbrauchende Chef. Wer hier nicht in der Lage ist, die Konfrontation zu suchen oder das Feld zu verlassen, der wird weiter ausgebeutet und wird seine Interessen nicht angemessen vertreten können.
Positives Verhältnis zur Aggression
Man benötigt also durchaus Kompetenzen am linearen Pol, vor allem „ein positives Verhältnis zur Aggression“. Fragen hierzu wären: Kann ich Unrecht klar benennen? Kann ich ungerechtfertigte Vorwürfe entschieden zurückweisen? Kann ich meine Vorwürfe aufrechterhalten, selbst wenn mir mein Anteil am Konflikt bewusst ist? So etwas zu trainieren, ist sicherlich alles andere als einfach, besonders dann wenn ich viel mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu kämpfen habe.
Welche Kompetenzen für den zirkulären Pol notwendig sind, liegt ebenfalls nahe: Die Fähigkeit, sich (ernst gemeint) zu entschuldigen. Den eigenen Anteil am Konflikt erkennen und benennen zu können. Darauf verzichten zu können, andere und sich selbst zu beschuldigen, selbst wenn man eine Schuld erkennt. Vorwürfen mit Neugier begegnen zu können. Auch alles andere als einfach …