6. Oktober 2024

Management auf den Punkt gebracht!

Coaching: Das große Jammern

KRITIK: Jahrelang hieß es unisono: Coaching boomt. Das wurde nur von wenigen als Medienhype und Verkaufsförderungsstrategie abgetan. Jetzt hat Coaching – offensichtlich coronabedingt – einen enormen Schub bekommen. Aber der behagt einigen so nun überhaupt nicht. Also vor allem den bislang etablierten Coaches nicht.

Denn auf dem unregulierten Markt operieren neben den sich seriös nennenden, etablierten Coaches, auch ungeniert Hallodris, Naivlinge, Scharlatane und offensichtlich auch Menschen, die ein ausgesprochenes Interesse am Geld anderer haben. Ohne dass für sie Professionalität, im alten, kontinentaleuropäischen Sinne von „das muss man studiert haben“, gelten würde. Und ethische Standards als Leitplanken mögen manche offensichtlich auch nicht so gerne. Lieber ein Anything goes: Was nicht verboten ist, das ist erlaubt.


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El Dorado: Life-Coaching

Jetzt kann man einwenden, vor allem, wenn man – wie unsereiner – im Laufe der Jahre viel Elend gesehen hat, dass das alles nicht neu sei. Und so konstatiert das auch Autorin Sylvia Jumpertz konsequenterweise in der managerSeminare (Das Pseudo-Coach-Problem). Da werden Erinnerungen wach an die Motivationsgurus der 1990er- und Nuller-Jahre: Jürgen Höller, Emile Ratelband und Bodo Schäfer. Auch die inflationäre Ausweitung des Coaching-Begriffs auf alles, was nicht bei Drei auf den Bäumen war, ist keine neue Erkenntnis – sondern schon locker 20 Jahre alt. Zu ergänzen wären auch die peinlichen Familienaufstellungen von Bert Hellinger – live vor Massenpublikum.

„Und jetzt haben wir den Salat!“ Der deutsche Coaching-Pionier Wolfgang Looss hat das schon früh („…aus dem Job raus, ist genauso hart, wie rein zu kommen“) vorausgesehen: Den Fluch, sich vermarkten zu müssen – und den Preis, den die Coach-Branche dafür zahlen muss. Der Soziologe Stefan Kühl nennt es ein Professionalisierungsdilemma (Die Professionalisierung der Professionalisierer?): Je mehr man sich puristisch auf seinen Professionskern konzentriert, desto enger wird der Markt; je mehr man in neue Tätigkeitsfelder expandiert, desto blasser erscheint dem Markt der eigene Professionskern. Doch der Mittelweg, so lehrt Marketing-Guru Michael Porter, führt geradewegs in den wirtschaftlichen Abgrund.

Der Fluch – oder nennen wir es: die Nebenwirkungen – sind nun gerade geballt ein heißes Thema in Publikumsmedien, insbesondere in TV-/Videoformaten: Von Gert Scobel über Jan Böhmermann, Svenja Kellershohn, Anja Reschke bis zu Carolin Hentschel und Eva Kunkel. Da wird recherchiert, aber eben auch skandalisiert. Autorin Jumpertz hat das in Textkästen übersichtlich zusammengestellt. Zum Nachschauen.

Personalisierung, Authentizität, Intimisierung, Emotionalisierung

Inszenierte Massenveranstaltungen, die Begehrlichkeiten wecken, unrealistische Traumwelten und finanzielle Abzocke, all das ist nicht neu und wurde auch immer wieder kritisiert (Hauch von Guru). So sei beispielsweise an das Buch „Coachingwahn“ (2011) von Erik Lindner erinnert, das heute nur noch antiquarisch erhältlich ist. Heute kommt die Kritik allerdings geballt als Welle daher und bedient sich ebenfalls der seit den 1980er-/90er-Jahren hinlänglich bekannten Medienwirkungsfaktoren Personalisierung, Authentizität, Intimisierung, Emotionalisierung. Die Methoden vor und hinter dem Schreibtisch ähneln sich – das ist doch bemerkenswert.

Damit soll das journalistische Aufklärungsinteresse in keiner Weise abgewertet werden. Trotzdem kann man festhalten: Der allgemeine Umgangston hat sich eben auch geändert im Laufe der Jahre. Und die technischen Möglichkeiten haben sich vervielfacht, die Schwelle der Berichterstattung hingegen hat sich rapide gesenkt. Es ist also heute viel leichter, sendefähiges Material zu produzieren. Im Prinzip kann das jede/r mit einem modernen Smartphone – und einem Social-Media-Account.

Social Media als Game Changer

Was aber heute den Medienhype im Vergleich zu früher exponentiell pusht, sind die Möglichkeiten, die Social Media bieten. Wie brachte das weiland Peter Kruse so schön auf den Punkt: „hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und kreisende Erregungen im Netzwerk“ (Revolutionäre Netze). Das ist der Stoff, aus dem die modernen Diskurse gewoben sind. Wer es also schafft, diese Klaviatur zu bedienen, Resonanzmuster zu erzeugen, und seien sie noch so platt oder krude, der gewinnt die Aufmerksamkeit – und die Follower in großer Zahl.

Was für die Medien gilt, gilt ebenso für die Anbieter in der sogenannten Life-Coaching-Szene. Ihre Ansätze erscheinen zuweilen als das glatte Gegenbild dessen, was den seriösen Coaches wichtig ist: Konsumententum statt Koproduktion, Heteronomie (Fremdbestimmung bis hin zur Unterwerfung) statt Autonomie, Budenzauber statt harter Prozessarbeit, Rollendiffusion statt -klarheit, Manipulation und emotionale Ausbeutung statt Emanzipation. Und doch – man mag das bitter finden (wie ich), aber man sollte es zunächst als Tatsache akzeptieren – solches findet offensichtlich Resonanz beim breiten Publikum.

Die Leute mögen es

Wenn die Philosophie der Aufklärung den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit propagierte, war das ein Emanzipationsprojekt ohne gleichen. Ist ihm – angesichts von Tiktok & Co. (Von Tiktok lernen?) die Luft ausgegangen? Oder handelt es sich um ein tieferliegendes Problem, wie vor 80 Jahren Horkheimer und Adorno mit der Dialektik der Aufklärung vermuteten? Vielleicht drifte ich jetzt intellektuell etwas ab. Aber die Themen Freiheit und Selbstbestimmung sind doch Klassiker. „Lewer duad üs Slaw“ – heißt es nicht nur bei den Friesen. Auch heute steht unsere Freiheit wieder zur Disposition. Aber manche wählen dann doch „dummerweise“ die Unfreiheit …

Vielleicht muss man es einmal so deutlich sagen: Wenn die Leute „3 mal 7“, also erwachsen sind, sind sie frei. Sie dürfen ihr Geld verzocken, ihre Gesundheit ruinieren … Die Verfassung schützt sie und stellt hohe Anforderungen an die Einschränkung ihrer Freiheit. So hat eben auch die Berufsfreiheit Verfassungsrang. Warum wird das in Beiträgen wie diesem nicht erwähnt? Wäre ein Berufsverbot – ein Thema, das hierzulande schon für manche Aufregung gesorgt hat (z.B.: Radikalenerlass 1972) – für „Schlimme Finger“ unter den Coaches zulässig? Vermutlich wäre es sinnvoll, an dieser Stelle einmal juristisch tiefer zu bohren. Wo wird diese Diskussion geführt? Die Autorin jedenfalls packt das Thema nicht an.

Die Methoden der Scharlatane, die Autorin Jumpertz beschreibt, sind altbekannt. „Glück und Erfolg hängen nur von dir und deiner Einstellung ab.“ Wenn sich da nichts ändert, liegt es halt an dir, an deinem Mindset (Gehirnwäscherei?). „Erst gute Gefühle, dann schlechtes Gewissen.“ Es ist schon faszinierend, wie simpel und durchsichtig solche Methoden sind. Mit dem kleinen Einmaleins der Sozialpsychologie hat man solche Tricks schnell entlarvt. Und doch lassen sich offensichtlich nicht wenige Menschen einfangen und in kostspielige Pyramidenspiele verwickeln. In meiner Jugend nannte man solches das Kettenbrief-Prinzip. Deren Tempo war damals gemächlich und das finanzielle Investment überschaubar. Und irgendwann war der Spuk vorbei.

Was tun?

All das ruft nun die etablierten Coachverbände auf den Plan. Sie fürchten ums Geschäft und um ihren Ruf. Wenn sie sich gegen die „Bösen“ positionieren, schützen sie mit Aufklärung nicht nur die potenzielle Kundschaft, sondern auch ihren Ruf und das Geschäft. Das ist verständlich. Coaching-Umfragen zeigten in der Vergangenheit aber immer wieder, dass sich die Coaches im Marketing stark zurückhalten. Man will sich nicht marktschreierisch aufdrängen. Lieber still empfohlen werden. Das mag passen, wenn man unterm staatlichen Schutz operiert (wie Ärzte). Dann hat man das nicht nötig.

Wenn man das aber nötig hat, dann müsste man etwas tun. Insofern ist der Erfolg der „Schlimmen Finger“ via Social Media auch ein Denkzettel. Er könnte sogar ein Weckruf sein! Ein Anstoß zu einem Protest gegen das Hijacking des Begriffs Coaching durch Leute, die sich noch nicht mal auf einen Minimalkonsens (Coaching als Profession) commiten. Doch schon wird wieder der – typisch deutsche – Ruf nach Vater Staat laut, der die Gilde schützen soll. Das ist aber das Gegenteil: Jemand anderes soll etwas tun. Es ist der Schwenk zurück zum alten, kontinentaleuropäischen Professionsmodell: Die schützende Hand des Gesetzgebers und die korporatistische Selbstbestimmung innerhalb dieses Rahmens. Wir bräuchten dann eine Coach-Kammer. Wie die Ärzte oder Rechtsanwälte. Wollen wir das? Die Psychotherapeut:innen haben sich das in den 1990er-Jahren auch gefragt. Heute haben sie diese – und nicht wenige der Zunft bereuen das. – So wie gar manches Unternehmen, das heute gerne aus der IHK austreten würde, aber nicht darf.

Der Ruf nach Vater Staat

Der Ruf nach Vater Staat ist also ein Plädoyer für den bürokratischen Apparat. Ob das Ansinnen, damit die Scharlatane auszugrenzen, Aussicht auf Erfolg hat? Wäre mit dem „Adelstitel“ etwas gewonnen? Wo doch heute Ärzte von ihren Patienten nicht selten mit Dr. Google und dessen Diagnosen konfrontiert werden? Oder Juristen nun drohen, von der KI substituiert zu werden? Man nennt das Aufweichen der Autorität und die Liberalisierung von Märkten Deprofessionalisierung. Solches beobachten wir schon längere Zeit. Doch der Staat, hat er nicht auch furchtbar kurze Arme? Trotz Psychotherapeutengesetz schafft er es nicht, Scharlatane vom Markt zu nehmen. Er schafft es noch nicht einmal, notorische Falschparker oder Raser zur Räson zu bringen. Der – typisch deutsche – Verbotsreflex ist aufwändig (Zombifikation). Und – das sei mal so nebenbei angemerkt – hat den Überwachungsstaat zum Ideal. Wollen wir das?

Dass eine Reprofessionalisierung nach der Phase der Deprofessionalisierung sinnvoll wäre, darüber kann man schnell einig werden. Doch über den Weg dahin wird erbittert gestritten. Beide Professionsmodelle, das alte paternalistische und das neue marktliberale haben nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile: Sicherheit/Bürokratisierung versus Freiheit/Kommerzialisierung. Wer das eine will, muss auch mit dem anderen leben. Und so muss man auch der Coach-Branche vorwerfen, dass sie seit 20 Jahren zwar Einigkeit fordert, aber bislang nicht realisiert hat: Zu viele Häuptlinge, zu viele unterschiedliche Interessen. Sie spricht nicht mit einer Stimme. Was ist also das Fazit? Autorin Jumpertz lässt zum Schluss das Dilemma unaufgelöst in der Schwebe. Was wenig tröstlich ist. Aber realistisch erscheint.

Und die Unternehmen?

Mit der Zeit haben Unternehmen interne Coaching-Kompetenz aufgebaut. In den Personalentwicklungsbereichen – vor allem größerer Unternehmen – sitzen Expert:innen, die sich so leicht kein X für ein U vormachen lassen. Nicht wenige Unternehmen verfügen inzwischen über einen Pool interner, gut ausgebildeter Coaches. Die Gefahr, dass Mitarbeitende irgendwelchen halbseidenen „Coaches“ aufsitzen, mag dort also geringer sein. Wenn sie auch nicht ausgeschlossen ist (Pat und Patachon).

Es wundert, dass im Beitrag die Unternehmensseite und die Kooperation dieser mit den Verbänden nicht thematisiert wird. Wenn das nicht ein interessanter Weg wäre … eine Möglichkeit zum Schulterschluss sogar? Wobei man hier auch gleich wieder in dieselbe Falle laufen kann: Die Unternehmen fürchten Übergriffigkeiten durch die Verbände. Und umgekehrt die Verbände durch die Unternehmen. So bleibt man offensichtlich lieber auf Distanz.

Tja, divide et impera, dann bliebe nur darauf zu hoffen, dass irgendeiner mal Social Media den Stecker ziehen würde. Hmm, ob das realistisch ist? Haben wir nicht gerade erst den Konsum von Cannabis legalisiert?

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2 Gedanken zu “Coaching: Das große Jammern

  1. Es gab einmal die Interessengemeinschaft Coaching, Da waren 75 Coaches aufgelistet. Alle ehrbar und gut gebildet. Sie haben es nicht geschafft, auf der strategischen und der operativen Seite verbindlich Standorts zu definieren. Aus der Interessengemeinschaft ist der DBVC entstanden. Erst kein und fein- aber auch auch von egoistischen Interessen (Kohle, Zaster, Geld….) geprägt. Die individuelle Vermarktung war wichtiger als ein Ethos des Coachings.
    Die Coachingverbände – round-table -habe auch ausser plakative Kleinkram nichts zu Stande gebracht. Der Markt ist zerstritten, uneinheitlich und geprägt von“Ich weiss es genau“. Die Firmen nutzen Coaches in der Regel auch nur als verlängerte Werkbank der Führung.
    Ich glaube nicht mehr an ein einheitliches Verständnis von Coaching. Schade eigentlich, denn Coach ist eine feine Sache. Menschen selbstorganisiert selbstständig werden lassen ist eigentlich ein Grundinteresses des Grundgesetzes und des Unternehmers.

    1. Danke Rolf für deine Worte
      UND ich finde es okay, dass Coaching sich selbst regulieren darf und kann.
      Jede feste Struktur schafft wieder Posten und Begehrlichkeiten und davon gibt es schon genug, finde ich.
      Ich habe in 21 Jahren Erfahrung feststellen dürfen, dass die Coachees, die zu mir passen, mich auch finden.
      Ich erlebe, dass die Unternehmen, mit denen ich gerne und auch aus Überzeugung für ihre Haltung zusammenarbeite, mich immer wieder anfragen.
      Damit bin ich nicht reich geworden. Macht nichts.
      Meine Arbeit als Coachin trägt mehr als meine anderen Tätigkeiten in Beratung und Training zu meiner persönlichen Zufriedenheit und Erfüllung bei. Im direkten Kontakt mit einem oder zwei anderen Menschen ist so viel möglich.
      Ich bin wirklich froh, dass Coaching als Methode und Haltung mittlerweile anerkannt und verbreitet ist.
      Qualität setzt sich im Coaching durch, kann ich beobachten.
      Wenn Individuen selbst entscheiden dürfen und können sind sie eher immun gegen Programme, die alles versprechen. Sie hinterfragen Hypes, denen jede/r nachläuft und bleiben kritisch bei standardisierten Vorgehensweisen, die persönliche Bedürfnisse, Geschichten, Wünsche und Möglichkeiten ausblenden.
      Wir brauchen Menschen, die selbst entscheiden, die ermächtigt sind und zuversichtlich bleiben.
      Für diese Handlungsvollmacht kann Coaching einen wertvollen Beitrag leisten. Vielleicht ist dies die natürliche Begrenzung, die bestehen bleiben wird. Der bequemere Weg sieht anders aus.
      Beste Grüße
      Vera

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