KRITIK: In Unternehmen mit einem geringen Frauenanteil verfestigen sich Geschlechter-Stereotype. Das „riechen“ Frauen und bewerben sich nicht. Ein Teufelskreis – der nur schwer durchbrochen werden kann.
In der Systemtheorie ist das Phänomen schon lange bekannt, man nennt es: Pfadabhängigkeit (Wer hat, dem wird gegeben). Nun kann man das hinnehmen nach dem Motto: Werden wir nicht alle mit solchen Stereotypen sozialisiert? Oder man entschließt sich, das Spiel zu ändern. Dafür muss man die Unternehmenskultur verändern. Das ist nicht leicht, aber machbar – wenn man weiß, wie es geht und man es wirklich will (Du sollst nicht an der Unternehmenskultur schrauben).
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Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt
Autorin Hentschel (Frauen rekrutieren – aber wie?) macht es sich einfacher. Sie kommt mit der Theorie der mangelnden Passung um die Ecke: „Personen vergleichen, (A) wie sie sich selbst sehen und (B) wie sie die Stelle, das Arbeitsumfeld oder das Unternehmen sehen.“ Da Unternehmen die Kandidat:innen nicht verändern können, so Autorin Hentschel, bleibt ihnen nur, sich zu verändern. Also nicht sich selbst … das würde ja Kulturveränderung (s.o.) verlangen. Sie basteln bloß am Image, also der Außenwahrnehmung. Signaling nennt man das in der BWL. Und schon „riecht“ es noch perfider – nach Pinkwashing (Mit angezogener Handbremse). „Stellenanzeigen sind eine wichtige und in vielen Fällen die einzige Informationsquelle, die Bewerbende haben.“ Lasst uns also pflugs ans Werk gehen, und die Anzeigen pimpen, wäre eine naheliegende Idee.
Und siehe da, da eröffnen sich gleich mehrere Ansatzpunkte. Frauen reagieren nämlich viel sensibler auf subtile Botschaften als Männer. Die Autorin hat dazu geforscht. Und zwar zunächst im Start-up-Umfeld. Das sind oft überwiegend männliche Biotope. Ihre Hypothese: Frauen scheuen die Bewerbung dort, weil sie vermuten, bloß als Alibi-Frau eingestellt zu werden – was sie verständlicherweise nicht wollen.
Ein Job als Alibi-Frau?
Die Autorin nutzte eine Matching-App („Tinder für Start-up-Jobs“) und eine niederländische, über 8.000 Jobsuchende starke Stichprobe. Die Jobsuchenden erhielten dabei auch die Info über das Geschlechterverhältnis. Das Ergebnis war erwartungskonform: Je geringer der Frauenanteil, desto weniger oft bewarben sich Frauen. Den gleichen Ergebnis-Trend brachte auch eine zweite, Experimental-Studie in den USA zutage, in der man den Frauenanteil systematisch variierte.
Nun wollte die Autorin wissen, ob Job-Titel und Bilder die Bewerbungsabsicht von Frauen beeinflussen. Frauen werden weniger häufig Unternehmerinnen als Männer. Und sie besuchen auch weniger spezifische Vorbereitungsseminare. Wie wirken Bilder in Anzeigen für solche Kurse auf Frauen? „Wir nahmen an, dass Bilder mit weiblichen und geschlechtsneutralen im Vergleich zu männlichen Motiven positiv auf Frauen wirken könnten.“
Reim‘ Dich oder ich fress‘ Dich
Die Autorin kreuzte dies in ihrer Studie mit rein maskuliner oder geschlechtsneutraler Formulierung des Job-Titels: „In einem Experiment manipulierten wir die Bilder (männliches Motiv (männlicher Oberkörper in Superman Pose), weibliches Motiv (Frau von hinten, wie sie eine Wand streicht) oder geschlechtsneutrales Motiv (Turnschuhe)) und die sprachliche Form im Slogan.“ Ist das logisch? Nein, gebe ich mir selbst zur Antwort. Und auch nicht professionell. Das ist suggestiv. Wenn dann die Ergebnisse die eigenen Erwartungen spiegeln, ist das keine Überraschung, sondern in meinen Augen bloß ein Taschenspielertrick (Die Bilder werden im Beitrag gezeigt).
Zwei weitere Studien – wir schlussfolgern, die Forscherin ist fleißig – beleuchten Attribute des Ausschreibungstextes sowie das Geschlecht des Recruiters im Zusammenhang mit Führungskräfteentwicklungsprogrammen. Schon öfters ist angemerkt worden, dass Ausschreibungstexte häufig männlich konnotierte Attribute wie „durchsetzungsstark“ verwenden, die Frauen nicht ansprechen, sondern abstoßen. Auch das Geschlecht des Recruiters hat Signalwert. Steht der Recruiter doch für das Unternehmen. Und siehe da, stereotyp männliche Wortwahl und männlicher Recruiter ließ Frauen die Lust auf eine Bewerbung vergehen.
In einer zweiten Studie wurde allerdings ein Alterseffekt beobachtet: „Stereotyp männliche Wortwahl wirkte nur dann negativ auf junge Frauen, wenn der Recruiter männlich war, nicht aber, wenn es eine Recruiterin war. Für Frauen mittleren Alters (beginnend ab 40 Jahren) oder älter wirkte stereotyp männliche Wortwahl insgesamt negativ, und zwar unabhängig vom Geschlecht der Rekrutierenden.“ – Na, das ist doch einmal interessant! Wird aber von der Autorin nicht weiter kommentiert.
It takes two to tango
Bei dieser Batterie an Studien denke ich unweigerlich an die alte Allegorie von den blinden Forschern und dem Elefanten: Jeder Forscher sieht nur einen Ausschnitt, hält ihn aber für die Wirklichkeit. Zudem tue ich mich schwer mit den Konzepten Signaling und Passung. Sie definieren das Feld einseitig von Unternehmensseite aus: Es ist für diese bedauerlich, dass Frauen sich oft weniger passend zum Unternehmen empfinden. Daher muss man (sic!) sich also geschickter und ansprechender präsentieren – sich aber nicht wirklich ändern. Soll das die Botschaft sein? Es wäre ein Armutszeugnis.
Der Arbeitgebermarkt ist inzwischen in weiten Teilen Vergangenheit (demografischer Wandel, Fachkräftemangel). Wie wäre es, sich zu fragen, ob es nicht nur etwas Äußerliches ist, dass Passungsprobleme produziert? Was wäre, wenn es den Kern beträfe: die Kultur, die Strukturen? Schminke, Schnittchen und Schampus beim Recruiting-Day sind vergänglich. Wenn sich das Unternehmen dann am Tag danach ungeschminkt zeigt, ist das enttäuschend – im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn solches die Frauen „riechen“, ist das doch eine ziemlich gesunde Reaktion. Nicht wahr? Passung meint: It takes two to tango.