INSPIRATION: Im Berufsalltag zählen nur Sachargumente, Gefühle haben dort nichts verloren. So wird häufig reagiert, wenn mal ein Kollege emotional wird. Natürlich ist der Satz unsinnig. Und jeder weiß, dass am Ende selten die Sachargumente den Ausschlag geben – aber emotional werden, war dennoch lange tabu. Zumindest bei offiziellen Meetings und Gesprächen. In der Teeküche oder auf dem Flur hingegen durfte auch mal geweint, gebrüllt oder getröstet werden.
Diese Trennung ist sinnvoll, meint der Soziologe Stefan Kühl im Interview in der Brand eins (Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht). Das entlastet die Organisation, die sich nicht um privaten Kummer, Ehekrach und Schulsorgen kümmern muss. Und es schützt die Mitarbeiter, denn wenn sie sich öffnen, Privates und Berufliches nicht mehr trennen, dann sind sie natürlich auch verletzlich und können ausgenutzt werden. „Ach, der Sohn ist auf Klassenfahrt und mit dem Ehepartner läuft es grade nicht so gut? Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, heute Abend etwas länger zu bleiben.“
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Genau diese Aufhebung der Grenze zwischen privater und beruflicher Rolle aber scheinen immer mehr Unternehmen zu forcieren, ja geradezu einzufordern. Bei Abacus Laser sitzen die Mitarbeiter morgens erst einmal zusammen, der Redestein wird herumgereicht und jeder äußert, wie es ihm gerade so geht, wie er sich fühlt. Das hilft allen, sagt der Gründer, denn „wenn man wisse, wie es allen gehe, wisse man, worauf man Rücksicht nehmen müsse.“ (Mensch, Kollege). Klingt doch eigentlich auch sehr vernünftig, oder?
Die Organisation will den ganzen Menschen
Kühl verwendet den Begriff der „gierigen“ oder „besitzergreifenden“ Organisation. Sie will den ganzen Menschen, die Auflösung der Grenze zwischen Privatperson und Berufsausübung ist Programm. Die Idee dahinter: Emotionen werden als Ressource entdeckt. Wer mitleidet und mitfiebert, der engagiert sich mehr, bringt sich noch mehr ein, lebt praktisch mit und in der Firma.
Die französische Autorin Mathilde Ramadier berichtet von Teambildungsmaßnahmen in Start-ups, die zum Ziel haben, die Firma als Familie wahrzunehmen. „Es werden emotionale Bindungen hergestellt, um mehr von den Mitarbeitern verlangen zu können.“ (Mensch, Kollege). Und Kühl geht so weit, den New-Work Konzepten gierige Organisationsvorstellungen zu unterstellen.
Wie so oft lässt sich wohl auch hier feststellen, dass es kein Ideal, kein richtig oder falsch gibt. Ich sollte wissen, worauf ich mich einlasse, wenn ich mich einer Organisation anschließe. Die traditionelle, die klar signalisiert: Eure Sorgen und Probleme lasst bitte am Eingang zurück, sie interessieren hier nicht? Oder das Start-up, das kundtut: Wir wollen dich mit Haut und Haaren, am liebsten wäre uns, du verbringst auch noch deine private Zeit im Unternehmen, suchst dir hier deinen Lebenspartner und teilst mit uns deine Sorgen und Ängste. Nicht ganz zu Unrecht vergleicht Kühl solche Organisationen mit der Bhagwan-Bewegung.
Ein Dilemma?
Aber sind das wirklich die Alternativen? Gefühle entweder in die Teeküche verbannen oder die Mitarbeiter mit Haut und Haaren zu „Familienmitgliedern“ zu machen? Ist doch auch Blödsinn, oder? Warum nicht einen Raum für Gefühlsäußerungen anbieten? Zum Beispiel beim morgendlichen „Steh-Meeting“, aber es jedem einzelnen zu überlassen, ob er sich äußert oder nicht. Klar ist es schwierig, zwischen echter Freiwilligkeit und „es wird erwartet, dass ich irgendwas erzähle“ zu unterscheiden. Aber Mitarbeiter spüren doch sehr schnell, ob es in Ordnung ist, mal nicht zu erzählen, wenn es ihnen gerade schlecht geht. Und sie merken ebenso rasch, ob es akzeptiert wird, wenn man mal früher nach Hause geht, weil ein Kind krank ist, oder ob solche Versprechungen nur Lippenbekenntnisse sind.
Und wenn dann in einer Branche, in der Mitarbeiter häufig den Arbeitgeber wechseln, ein kleines Unternehmen von einer Fluktuation spricht, die gegen Null geht, dann scheint das mit der Balance durchaus machbar zu sein (Freiheit muss man lernen). Bei Five1 nimmt man Rücksicht auf Gefühle, die Teams wählen ihre Teamleiter selbst, sie entscheiden, ob Kundenaufträge angenommen werden oder warten müssen, können bei der Einstellung von Kollegen ein Veto einlegen, erhalten keine Boni und müssen die Unterscheidung zwischen beruflicher und privater Rolle selbst herstellen. Das funktioniert, auch wenn hier und da mal jemand das Vertrauen missbraucht hat.