REZENSION: Jürgen Kriz – Systemtheorie für Coaches. Springer 2016.
Dieses Buch ist ein Highlight und ein absolutes Lese-Muss nicht nur für Coaches, sondern für alle im Beratungsfeld Tätigen. Denn je mehr es bei Anbietern inzwischen Mode geworden scheint, sich mit dem Adjektiv systemisch zu schmücken, desto häufiger beschleicht Experten der Verdacht, es werde auf breiter Front bloß noch mit Worthülsen geklappert.
Anzeige:
Was ist das eigentlich: Professionelles Coaching? Erfährst Du in meinem Podcast. Er heißt „eindeutig Coaching“ und ist das Richtige für Dich, wenn Du Coaching für Dich selber und in Deiner Arbeit nutzen willst. Hör rein! Findest Du überall, wo es Podcasts gibt. Viele Grüße! Margot Böhm. Mehr Infos hier
So sollte man sogenannte systemische Coaches einfach einmal befragen, was an ihrer Arbeitsweise systemisch sei, was sie dann genau täten und was dies dann von alternativen Vorgehensweisen unterscheide. Hört man dann Allgemeinplätze à la: Alles hänge mit allem zusammen und das wissende Feld bei Aufstellungen irre nie, ist man nicht schlecht beraten, sich nach professionellen Angeboten anderweitig umzuschauen. Dass man sich auf fundiertes Wissen beziehen kann und dass sich daraus recht praktische Handlungsempfehlungen ableiten lassen, sollten Coaches nicht nur wissen, sondern auch in einschlägigen Weiterbildungen gelernt haben.
Systemisch – mehr als eine Worthülse
Das Büchlein von Jürgen Kriz ist dafür – neben anderen – eine hervorragende Basis und Hilfe. Der Autor war lange Jahre Psychologieprofessor in Osnabrück und kennt sich mit der Materie, wie er schon öfters bewiesen hat, hervorragend aus. Er legt gleich zu Beginn den Finger in die Wunde eines heterogenen Sprachgebrauchs von „systemisch“ und zeigt die verschiedenen konzeptionellen Wurzeln historisch auf. So geraten die sozio-technische Systemgestaltung, die Familientherapie, aber auch die Arbeiten Lewins, Batesons, Watzlawicks und Schulz von Thuns in den Blick. Kriz verweist aber auch auf die narrativen Ansätze der alten griechischen Philosophen, auf die sich in den letzten Jahrzehnten wiederum Steve de Shazer oder Tom Anderson bezogen haben.
Wenn der Autor die verschiedenen systemtheoretischen Ansätze erläutert, hebt er vier zentrale und miteinander verbundene Prinzipien hervor: Prozesse (statt „Dinge“), Rückkoppelung/Feld (statt isoliert-mechanische Wirkung), Emergenz/Selbstorganisation (statt Determiniertheit) und System-Umwelt (Adaption/Akkommodation). Diese lassen sich als Kernprinzipien sowohl systemtheoretischer Ansätze aus naturwissenschaftlichen Disziplinen als auch solcher gestalttheoretisch-synergetischer Schulen aufzeigen.
Selbstorganisation
In einem eigenen Kapitel wird die Autopoiese (Selbstorganisation) vorgestellt. Hier werden die Arbeiten der Neurobiologen Maturana und Varela und die des Soziologen Luhmann diskutiert. Ebenfalls ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem Konzept der Rückkoppelung und bezieht sich dabei auf das sogenannte „Trivialisierungs-Konzept“ von Heinz von Foerster.
Die erste Argumentationskette zeigt auf, das es unrealistisch ist zu erwarten, dass sich lebende Systeme im Sinne einfacher Reiz-Reaktions-Ketten verstehen lassen. Von Foerster hat dies mit dem Bild der „nichttrivialen Maschine“ bezeichnet. Kriz demonstriert deren Wirkungsweise in wenigen Sätzen eindrucksvoll und zeigt auf, was hingegen passiert, wenn Systeme zu lernen beginnen. Die Entwicklung ist in Kürze nicht mehr vorhersehbar.
Die zweite Argumentationskette zeigt auf, wie wir in einer unvorhersehbaren Welt durch Trivialisierung trotzdem handlungsfähig bleiben. So bedient sich unser kognitives System bspw. selektiver, vereinfachender Schemata (Heuristiken). Das kann im Kleinkarierten enden. Beide Dynamiken wirken allerdings zusammen, so dass sich die Frage stellt, wie können wir zwischen Chaos und Simplizität intelligent steuern. Kriz zeigt an eingängigen Beispielen, wie sich solche Dynamiken aufschaukeln oder neutralisieren, und dass man mit dem Konzept des Musters (Sinn-Attraktor) dieses hilfreich beschreiben kann.
Der Weg der Veränderung
Damit wird auch der Weg der Veränderung, der Einflussnahme aufgezeigt. Nach Kriz muss sich systemisches Coaching als Unterstützung von Ordnungs-Ordnungsübergängen verstehen. Was sich vielleicht leicht anhören mag, aber mit Sicherheit keine triviale Angelegenheit ist, sondern eines erfahrenen und sensiblen Coachs bedarf. Womit sich dann neue und spannende Fragen stellen, die der Autor dann nicht mehr beantwortet: Wie man bspw. als Coach tatsächlich Wirkung entfalten kann.
Der Coach sollte nicht nur erläutern können, warum eben nicht alles mit allem zusammen hängt und es kein allwissendes Feld gibt, sondern auch nützliche und nachhaltig wirksame Veränderungen initiieren und zudem begründen können, warum er diese statt Alternativen wählt.