INSPIRATION: Das klingt nach einer Sozialutopie. Ein Unternehmen muss in der Krise Personal abbauen und versucht gemäß der soziokratischen Methode des Konsents die Betroffenen an den Entscheidungen zu beteiligen. Kann das funktionieren? Die Maßnahme wurde wissenschaftlich begleitet.
Das Konsentverfahren beruht darauf, dass nach intensiven Diskussionen ein Vorschlag erarbeitet wird, der als beschlossen gilt, wenn es keine schwerwiegenden Einwände mehr gibt. Das gibt dem Einzelnen ein extrem hohes Mitspracherecht, weil es eben nicht nach Mehrheiten geht. Das betroffene Unternehmen hatte zuvor begonnen, auch andere soziokratische Elemente einzuführen (Selbstorganisierte Kreise, offene Wahl etc.), aber dann kam die Krise und die Transformation stockte.
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Dennoch entschied sich die Geschäftsleitung, den geplanten Stellenabbau per Konsent und offene Wahlen durchzuführen. Offenbar hatte man bei sich selbst und beim mittleren Management damit begonnen, was ich bemerkenswert finde. Leider erfahren wir in dem Beitrag der zfo (Wenn Mitarbeitende Mitarbeitende entlassen) hierüber keine Details.
Der Ablauf
Anschließend lief die Sache wohl so ab: Zuerst konnten die Teamleiter (mittleres Management?) diejenigen Personen benennen, die sie unbedingt behalten wollten – das war schon mal ein Bruch im Verfahren. Mit dem Vertrauen in die Teams und die Mitarbeitenden war es wohl doch nicht so weit her…
Dann mussten sich die anderen Mitarbeitenden selbst für die verbleibenden Stellen nominieren und sich der Wahl durch das Team stellen. Wenn ich das richtig verstehe, war die Anzahl der abzubauenden Stellen vorgegeben. Bedeutet, dass es für das restliche Personal nicht mehr genügend Stellen gab, damit war es den Teams überlassen, diese zu besetzen. Moderiert wurden die Treffen von der Geschäftsleitung.
Das Ergebnis ist bemerkenswert, auch wenn es mich nicht sonderlich überrascht. Zwar erfahren wir nicht, wie viele Stellen abgebaut werden sollten, aber bei insgesamt 200 Mitarbeitenden gelang es, 16 Vollzeitstellen zu erhalten durch alternative Maßnahmen wie mehr Teilzeitlösungen und unbezahlten Urlaub. Bei den dann noch zu besetzenden Stellen traten zwei Drittel der „Kandidaten“ freiwillig zurück, bedeutet wohl, dass sie kündigten und anderen den Vortritt ließen.
Das klingt ein bisschen so, als ob die Geschäftsleitung die Mannschaft in ein Rettungsboot mit begrenzter Platzzahl setzt, einigen eine Bleibegarantie gibt und dann den Rest auffordert, sich zu einigen, wer die verbleibenden Plätze belegen darf.
Wissenschaftliche Studie
Spannend ist nun, was die anschließende Befragung durch die wissenschaftliche Begleitung ergab. 16 Interviews wurden durchgeführt und 117 vollständig ausgefüllte Fragebögen ausgewertet. Hier die Resultate:
Menschen, meist Führungskräfte, die umfassend in solchen Verfahren geschult worden waren, zeigten sich zufriedener mit dem Vorgehen. 60% konnten die getroffenen Entscheidungen nachvollziehen, allerdings nur 30% die von den Teamleitern vorab getroffenen Personalentscheidungen. Hier herrschte der Eindruck vor, dass jene bessere Chancen hatten, die gute Beziehungen zu ihren Vorgesetzten pflegten.
Weitere Ergebnisse: Die Zufriedenheit war deutlich größer, wenn die jeweiligen Führungskräfte intensiv mit ihrem Team interagierten, allgemein aber fühlten sich viele nicht ausreichend einbezogen, was die Forscher darauf zurückführen, dass der Zeitraum zu kurz und die Schulung und Information in Sachen Konsentverfahren nicht ausreichten. Die Befragten waren überwiegend der Meinung, dass eine Krisensituation nicht der geeignete Moment sei, eine solche Methodik einzuführen.
Knackpunkte
Noch zwei Knackpunkte: Auch wenn man die Moderation durch die Geschäftsleitung als fair empfand, plädierten wohl doch viele dafür, eine solche Aufgabe nicht durch Führungskräfte moderieren zu lassen. Außerdem wuchs wohl der Druck, je mehr Stellen besetzt wurden, auf den Rest der Mannschaft, die dann um die schwindende Zahl der Stellen kämpfen mussten. Mit entsprechendem Stressfaktor für die Verbleibenden Kandidaten. Eine Idee hierzu wäre, diese Stellen unter den verbleibenden Bewerbern zu verlosen. Was auch zu der Erfahrung passt, dass Kolleg*innen, die sich gut ausdrücken können, Vorteile gegenüber den anderen hatten.
Ich finde erstaunlich, dass es überhaupt klappte mit Menschen, die noch gar nicht wirklich geübt in dem Verfahren waren. Man könnte argumentieren, dass ihnen auch gar nichts anderes übrig blieb, Stichwort Rettungsboot. Aber immerhin konnten mehr Stellen erhalten werden als ursprünglich geplant, und allein das spricht schon für eine solche Einbindung der Betroffenen. Dass anschließend viele sich nicht mehr so mit dem Unternehmen identifizieren und ihr Engagement reduzierten, dürfte wohl normal nach Kündigungswellen sein…