KRITIK: Leider muss man – auch aus gelehrter Feder – immer noch den gröbsten Unfug zum Thema Personalauswahl lesen. Ich frage mich allen Ernstes, ob man das mit Unwissen, Naivität oder anderem erklären kann oder soll.
Die Erstautorin (Digitale Vorstellungsgespräche) scheint gerade ihr Bachelor-Studium in Betriebswirtschaftslehre abgeschlossen zu haben. Sie berichtet vermutlich die Ergebnisse ihrer Abschlussarbeit. Flankiert wird sie von zwei weiteren Autorinnen im Professorenrang, mutmaßlich die Betreuerinnen ihrer Arbeit. Und es fängt schon mit dem Untertitel an, dass ich mir am Hinterkopf kratze: Generation Z. Dieses ist kein wissenschaftliches Konzept, sondern evidenzbasiert eine Chimäre. Wenn dann als nächste Information zu lesen ist, dass lediglich fünf Personen (Stichprobe) für diese Generation sprechen sollen (=mangelnde Repräsentativität) kann ich nur den Kopf schütteln.
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Es wurden also ein paar Interviews geführt. Die Ableitung des Interviewleitfadens aus der Theorie wird nicht berichtet. Die Auswertung wird nur grob skizziert. „Es wurden vier weibliche und eine männliche Person aus verschiedenen beruflichen Richtungen befragt (…). Obwohl in der Stichprobe Frauen dominierten, zeigen die Ergebnisse keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.“ Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man hier laut lachen. Über Grundkenntnisse in Statistik sollte man als Akademikerin schon verfügen.
Nicht von dieser Welt
Überhaupt – es fehlt jede konzeptionelle Einordnung des Themas. Seit über 20 Jahren gibt es die DIN 33430 als State of the Art. Es existiert sogar eine DIN SPEC 91426 (Video-gestützte Personalauswahl). Beides scheint den Autorinnen nicht bekannt zu sein. Die relevante Fachliteratur zum Thema Personalauswahl wird nicht zitiert, das Thema Digitalisierung und Personalauswahl: Eine Leerstelle.
Dabei wurden dazu in den letzten Jahren etliche hochinteressante Publikationen vorgelegt. Beispielsweise zuletzt wieder von Klaus Stulle das Buch „Personalauswahl 4.0“. Darin findet sich auch der lesenswerte Beitrag von Tim Warszta zur Perspektive der Kandidat:innen. Es ist nicht erkennbar, dass die Autorinnen an einem solchen Wissensstand anknüpfen, geschweige denn darauf aufbauen.
Alltagspsychologie
Im Gegenteil: Der Bericht der Ergebnisse scheint der Alltagspsychologie zu folgen. Dafür spricht auch ein völlig undifferenzierter Sprachgebrauch, beispielsweise: „die fehlende Wahrnehmung der Körpersprache.“ Oder die Referenz auf „das Zwischenmenschliche.“ Da mag sich die Leserschaft dann selbst einen Reim drauf machen, was sie darunter verstehen möchte. Als bedenklich bezeichnen die Autorinnen die Klage einiger Interviewpartner:innen, dass man bei digitalen Vorstellungsgesprächen „den potenzielle Arbeitsplatz sowie die Atmosphäre im Unternehmen nicht kennenlernen“ könne. Das Stichwort Recrutainment ist ihnen offensichtlich noch nicht untergekommen. Auch darüber hätte sie im Buch von Klaus Stulle lesen können. Oder den Webtalk bei MWonline mit zwei ausgewiesenen Experten anschauen können (Recrutainment).
Dass man mit solchen schwachen Arbeiten einen akademischen Grad erlangen kann, ist das eine. Dass man solche unwissenschaftlichen und auch für Praktiker unnützen „Weisheiten“ veröffentlichen kann und muss, das andere – für das mir das Verständnis fehlt.