INSPIRATION: Das Thema „Arbeitszeit“ greifen wir inzwischen nicht mehr so häufig auf, was vielleicht daran liegt, dass es hier nicht mehr wirklich Innovatives zu berichten gibt. Es sei denn, jemand kommt auf die grandiose Idee, Überstunden steuerlich zu begünstigen. Kleiner Seitenhieb …
Anlass für diesen Beitrag ist ein Artikel im Personalmagazin, dessen Titel neugierig macht: „Wenn Flexibilität auf 20 Tonnen Stahl trifft“. Die Rede ist von einem Stahlwerk in Andernach (Thyssenkrupp Rasselstein), wo mit 2.400 Mitarbeitenden Verpackungsstahl produziert wird. Der Betrieb läuft rund um die Uhr, bisher in einem traditionellen Fünf-Schichtsystem – und das seit über 25 Jahren. Eine Rahmenbedingung sollte noch erwähnt werden: Die Anlage kann nur sicher betrieben werden, wenn sie mit zwei exakt gleich qualifizierten Mitarbeitenden besetzt ist. Um diese Qualifikation zu erlangen, benötigen neue Beschäftigte mehrere Monate bis zu einem Jahr.
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Für Flexibilität erscheint hier nicht allzu viel Raum zu sein. Nichts zu machen mit Gleitzeit, und schon gar nicht mit Homeoffice. Und mal so eben tauschen ist auch nicht allzu realistisch. Oder doch? HR machte sich dazu Gedanken, verpflichtete Arbeitszeitexperten und bastelte an einem „Arbeiten ohne Schichtplan“. Angestrebt war offenbar, dass die Mitarbeitenden sich beliebig mit Hilfe einer App eintragen können und so selbst entscheiden, wann sie vor Ort sein wollen. Klingt anspruchsvoll.
Wenig Wunsch nach Veränderung
Man bezog die Betroffenen ein und ließ sie ihre Wunschpläne skizzieren. Und erlebte eine Überraschung: Diese ähnelten stark dem bisherigen Schichtplan, ein Aha-Erlebnis für die ambitionierten Personaler. Offenbar empfinden die Beschäftigten den starren Plan als eine Art Rahmen, der Planungssicherheit bietet. Sie haben ihr Privatleben darauf abgestellt, nicht mehr allein der Schichtplan, sondern die „eingespielten Lebensrealitäten“ schränkten den Spielraum ein.
Einerseits. Andererseits zeigten sich durchaus Unterschiede zwischen den Generationen. Jüngere Mitarbeitende wünschten sich durchaus mehr Flexibilität. Vielleicht auch, weil sie im Privatleben noch weniger festgelegt sind.
Die Konsequenz: Es war nicht nur mit einem neuen Modell – oder besser: mit einer App – getan. Nach dem Motto: Gib den Menschen ein Tool, den Rest erledigen sie selbst. Aber ein Tool kann durchaus eine Hilfe darstellen. So auch in diesem Unternehmen. Die Mitarbeitenden können nun per Smartphone Wünsche anmelden und ihre Verfügbarkeiten eintragen, über eine Tauschbörse entsteht mehr Flexibilität – auch wenn die Entscheidungshoheit beim Schichtführer bleibt. Nicht der ganz große Wurf, aber ein erster Schritt.
Breiter qualifizieren
Die zweite Konsequenz: Man will an der Qualifikation ansetzen. Hätte man auch vorher draufkommen können. Je breiter die Menschen qualifiziert sind, um so flexibler ist der Betrieb. Und damit auch jeder Einzelne. Also schafft man Anreize für Weiterbildung auch im Entgeltsystem. Apropos Entgelt: Die unbeliebten Zusatzschichten werden attraktiver gemacht mit Hilfe eines Punktesystems. Was den einen oder anderen vielleicht motiviert, auch mal ungeplant am Samstagabend einzuspringen.
Und schließlich – was nicht weiter ausgeführt wird – sollen auch die Lebensphasen berücksichtigt werden. Also z.B. durch „reduzierte Wochenstunden im späteren Erwerbsleben“. Ob das schon im Einsatz ist, erfahren wir nicht.
Erste positive Reaktionen
Ein vorsichtiges erstes Fazit des Autors: Nicht alle sind von den Änderungen begeistert. Aber hier und dort gibt es positive Rückmeldungen, wie z.B. über effizientere Abstimmungen oder mehr Transparenz bei den individuellen Wünschen, auf die jetzt mehr Rücksicht genommen werden kann.
Worüber ich schmunzeln musste: Ich erinnere mich an die Einführung des Fünf-Schichtsystems in Produktionsbetrieben und den massiven Widerstand dagegen. Auch damals hatten alle ihr Privatleben auf das alte Modell ausgerichtet, auch damals litt die Planbarkeit für den Einzelnen. Die Erkenntnisse der Arbeitsmedizin sorgten dafür, dass das Modell gegen die Widerstände eingeführt wurde. Insofern hätte es also niemand verwundern dürfen, dass die Begeisterung sich erst mal in Grenzen hielt.
