REZENSION: Amelie Funcke / Jenny Stumper / Ingo Sell – Wissenstransfer in der Praxis. Wie Sie bei Personalwechsel Wissenstransferprozesse moderieren, begleiten und in der Organisation implementieren. managerSeminare 2025.
Die Ausgangslage des Buches dürfte in so ziemlich jeder Organisation hinlänglich und oft sogar schmerzhaft bekannt sein: Ein bewährter Stelleninhaber (m/w/d) verlässt seine Position und hinterlässt damit einen ganz offensichtlichen Kompetenzmangel. Im Text wird das als „Wissensverlust“ bezeichnet. Dabei geht Erstgenanntes streng genommen noch darüber hinaus, doch zu solchen Spitzfindigkeiten kommen wir noch später.
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Idealerweise findet dann dieser Personalwechsel nicht abrupt und ungeplant statt, sondern es ergibt sich noch die Möglichkeit einer sogenannten „Übergabe“. Es sollte noch recht häufig vorkommen. Sicher bedauerlich, aber in der Praxis bestimmt erheblich seltener ist dann das Vorgehen, dass für eine solche Übergabe oder den damit verbundenen Wissenstransfer die Unterstützung externer Fachleute herangezogen wird. Und in erster Linie an solche Berater-Professionals richtet sich das hier vorgestellte Buch. Wobei sich auch interne HR-Vertreter und Führungskräfte angesprochen fühlen sollen und ganz bestimmt von den Inhalten profitieren können.
Der im Buch beschriebene Wissenstransfer kann üblicherweise „personifiziert“ erfolgen, also von Mensch zu Mensch. Oder „kodifiziert“, also digital über Wissensdatenbanken, Sharepoint oder andere Kommunikationssysteme (im Text aber nur im Rahmen des Zukunftsausblicks betrachtet).
Ein formaler, zielgerichteter Personen-Prozess
- Vorgespräch mit der Führungskraft
- Gemeinsamer Kick-Off mit allen Beteiligten
- Digitaler Überblick über das zu übertragende Wissen des Wissensgebers – samt seiner Selbsteinschätzung über den aktuellen Wissensstand
- Moderierte und nicht-moderierte Übergabegespräche
- Abschlusstreffen mit der Führungskraft
Dabei sollte der gesamte Transfervorgang innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden. Extern abgerechnet werden dazu zirka 24 Beraterstunden in Blöcken à 1,5 Stunden. Vom Prozessbegleiter werden dazu eine Reihe an Fertigkeiten gefordert wie:
- Erfahrung in Moderation, Prozesssteuerung und Gesprächsführung
- Allparteilichkeit
- Strukturiertes und system(at)isches Denken
- Eigeninitiative & Durchhaltevermögen
- Neugier & Anpassungsfähigkeit
- Empathie etc.
Allerdings ist in der Realität jedes Verfahren anders und sollte stets an die Bedürfnisse der Teilnehmer sowie die Gegebenheiten in der Organisation angepasst werden. Außerdem weisen die Autoren berechtigterweise darauf hin, dass die Wissensweitergabe nicht erzwungen werden kann, keine Ausbildung oder Studium ersetzt und/oder Wunder bewirken kann.
Idealtypisch und detailliert beschrieben
In der Folge wird dann reichlich idealtypisch beschrieben, wie die einzelnen Prozessschritte verlaufen sollten. Liebevoll illustriert durch wirklich sehr professionell gestaltete, handschriftliche und bunt aufbereitete Flipcharts. Die dafür erforderliche Kompetenz wird dann – mit guten Gründen – in diesem Buch nicht vermittelt. Aber bekanntlich „isst das Auge mit“. Die eigentliche Lektüre wird dann durch diese „Eyecatcher“ zum einen stimuliert, zum anderen wird aber auch immer wieder vom eigentlichen Text abgelenkt.
Die Inhalte des Buches beschränken sich dabei ausdrücklich nicht auf schlichte „Rezepte“, wie solche Wissenstransferworkshops gestaltet werden sollten. Ebenfalls enthalten sind auch diverse Stolperfallen und Widerstände, die in der Praxis entgegen des ursprünglichen „Drehbuches“ auftreten können. Aber auch mit solchen Differenzierungen folgt die Darstellung recht eng dem dahinter liegenden „Masterplan“. Der allerdings – wie die Strategie nach der ersten „Feindberührung“ – bei eigenen Projekten rasch der jeweiligen Realität zum Opfer fallen dürfte. Und so macht dann beispielsweise ein vorgeschlagener 10-Punkte-Plan für ein Zwischengespräch theoretisch viel Sinn. Es bleibt allerdings fraglich, ob es praktisch dann tatsächlich in eine einigermaßen vergleichbare Richtung gehen wird.
Leitfragen und Varianten
Ähnliches gilt für die kernigen Leitfragen:
- Von wem ging die Initiative für den Wissenstransfer aus?
- Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag? Welche großartigen Geschichten haben Sie erlebt?
- Wen müssen wir noch in den Prozess involvieren?
- Highlights? Enttäuschungen? Was wäre noch gut gewesen? Empfehlungen?
- Was ist hier eigentlich los?
Diese können bestimmt „knackige“ Diskussionen lostreten. Wenn sie denn auf das passende Setting treffen: Engagierte Teilnehmende und eine passende Umgebung.
Gegen Ende des Buches werden noch ein paar Spielarten als Varianten des klassischen Prozesses thematisiert: Wenn z.B. keine zeitliche Überlappung zur Übergabe gegeben ist, und das Ganze digital statt in Präsenz stattfinden muss. Oder Rollen/Akteure anders als zuvor beschrieben ausfallen.
The Map is not the Territory
Zu Beginn stellt sich das Autorentrio – allesamt gestandene Praktiker – recht persönlich vor und spricht damit die Leserschaft direkt an. Im Text findet das Gendern dabei recht originell statt, indem sie z.B. nur von der „Wissensgeberin“, „Gastgeberin“ in der weiblichen Form sprechen. Das kann man so machen, in dieser Rezension sind wir diesbezüglich konventioneller unterwegs. Als „Blick in die Kristallkugel“ prognostizieren die Autoren Wissenstransferprozessen eine „großartige Zukunft“ (S. 289). Weil die direkt zu Beginn skizzierte Ausgangslage bei voranschreitendem Generationswechsel immer häufiger auftreten wird. Statistisch gesehen mag dies tatsächlich der Fall sein. Aber ob diese Notwendigkeit tatsächlich darin mündet, recht aufwändige Beratungsprojekte zu beauftragen? Es bedeutet eine Herausforderung.
Dass auch eine aufmerksame Buchlektüre allein nicht für solche Workshops qualifiziert, dürfte allen Beteiligten selbstredend klar sein. Aber das hier besprochene Buch enthält allemal jede Menge Handlungswissen, um zu solchen Aktivitäten zu motivieren und diese in der eigenen Beratungspraxis anzubieten. Wie eng dann die Projekte entlang des hier vorgestellten Fahrplans verlaufen werden, dürfte sehr unterschiedlich ausfallen. Allemal sollte in der Realität mehr Improvisationstalent als Gewissenhaftigkeit gefordert sein. Dennoch mag sich die Investition für das Buch schon nach dem ersten einschlägigen Auftrag gelohnt haben (dazu am besten gleich noch einen „Crash-Kurs“ zum Thema „Flipchart-Gestaltung“ buchen).
Wissen oder Kompetenz?
Abschließend allerdings noch ein Gedanke zur anfangs angesprochenen Spitzfindigkeit: Angenommen, eine gestandene Fach- oder Führungskraft verabschiedet sich – idealerweise organisch-geplant – in den Ruhestand, gefolgt von einer deutlich jüngeren, weniger erfahrenen Nachfolge. Ist es dann – wie schon im Buchtitel impliziert – wirklich sinnvoll, maßgeblich einen „Wissenstransfer“ anzupeilen? Oder ist nicht vielleicht schon diese Bezeichnung irreführend: Schließlich hat reines Wissen rasch einen ausufernd-enzyklopädischen Charakter und es macht möglicherweise nur wenig Sinn, mit viel Aufwand dieses im Lauf von Jahrzehnten angehäufte Wissen an den Nachfolger transferieren zu wollen.
Auch die glorreichen Geschichten aus der Vergangenheit, im Rheinland gerne als „Döneken“ bezeichnet, mögen einen hohen Unterhaltungswert aufweisen samt Wertschätzung für Erreichtes (oder gar Misslungenes). Aber eine solche aktive Vergangenheitsbewältigung macht gerade für die Rolle des Nachfolgenden nur begrenzt Sinn. Weil seine (oder ihre) Ausgangslage mittlerweile eine gänzlich andere geworden sein mag.
Daher könnte es auch schon als „Produktbeschreibung“ mehr Sinn machen, einen „Kompetenztransfer“ anzupeilen. Und zwar im Sinne von: „Was sind die wichtigsten Do’s and Don’ts in der neuen Funktion?“. Dafür könnte „reines Wissen“ möglicherweise sogar verzichtbar sein. Es sollte also der Fokus mehr auf ein „Onboarding“ gelegt werden. Das könnte zur Wirksamkeitssteigerung des Neuen mehr beitragen als das „Wissen der Alten“ in den Mittelpunkt zu stellen.
Faktisch mögen beide Herangehensweisen eher ineinander übergehen. Sie müssen sich nicht gänzlich ausschließen. Aber auch aus Beratersicht mag dieser Gedanke erlaubt sein, der auch das dahinter liegende Produktversprechen würdigt, ohne damit von der Lektüre des hier vorgestellten Buches gänzlich abraten zu wollen.