KRITIK: Die Arbeit könnte so schön sein und Spaß machen – allein: Das Klima ist bedrückend. Weil … oft braucht es etwas Zeit, bis man realisiert hat, warum, bis man es in Worte fassen kann: Weil es ein Tabu ist!
Wer will sich gerne als Bedenkenträger outen? Wer traut sich, eisernen Glaubenssätzen der Organisation zu widersprechen? Kaum jemand, nicht wahr? Weil einen dann die geballte Breitseite der Ablehnung trifft, man als Miesepeter, Querulant oder unsicherer Kantonist erscheint. Das macht doch keiner. Vor allem nicht allein. Besser also: Keep smiling!
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„Du machst das schon!“ „Das wird schon wieder!“ Oder: „So schlimm ist es doch gar nicht!“ Negative Gefühle, Bedenken, Vorbehalte, begründete Zweifel, Fehler – all das will man nicht hören. Wischt es mit einer Handbewegung vom Tisch, fährt dem Mitarbeitenden über den Mund. Oder sieht es als dessen alleiniges Versagen oder Schwäche an. Fehler macht man nicht. Sonst ist man am Ende ein Fehler. Der Bote, der schlechte Nachrichten überbringt, wird geköpft. Kennt man docch.
Die Autoren (Toxische Positivität in Organisationen) malen das Szenario, das sich ihnen über eine Literaturrecherche darstellt, die bis in die 1980er-Jahre reicht, in düsteren Farben aus. Und sie warnen vor negativen Auswirkungen für die körperliche, aber auch psychische Gesundheit der Mitarbeitenden. Und für die Organisation insgesamt: erhöhte Fehlzeiten, verminderte Leistung oder wirtschaftliche Verluste.
Toxische Kommunikation
„Trotz dieser unter Umständen verheerenden Folgen für Organisationen und ihre Mitglieder ist das Phänomen der toxischen Positivität im Organisationskontext bisher unerforscht.“ Diese Schlussfolgerung der Autorengruppe verwundert, und man muss sie nicht teilen. Es kommt halt darauf an, wohin man seinen wissenschaftlichen Suchscheinwerfer richtet … (Toxische Kollegen). Und sie schränken ihr Diktum gleich selbst ein, indem sie auf Mobbing, Sarkasmus oder Zynismus verweisen. Doch das scheint ihnen nicht systematisch genug zu sein: Es „fehlt ein Bewusstsein für toxische Positivität als Teil toxischer Kommunikation“.
Nun, den Herrschaften kann geholfen werden: Schon Ende der 1960er-Jahre haben Watzlawick und Co. die Kommunikationsaxiome ausführlich beschrieben. Das muss man über 50 Jahre später nicht unbedingt wiederholen. Oder etwa doch? Dann würde ich allerdings noch einen Schritt früher ansetzen, beim Lehrer dieser Forscherlegenden (so steht’s in der Widmung dieses Buchs: Menschliche Kommunikation), bei Gregory Bateson. Er beschreibt hellsichtig, wie Double Bind in der Kommunikation entsteht: Als pathologisches Täter-Opfer-Spiel, das mit negativen Geboten operiert: 1. „Tu dies oder jenes nicht, oder ich werde dich bestrafen“. 2. „Betrachte mich nicht als die Strafinstanz“. 3. „Verlasse den Schauplatz nicht“. – Und dann könnte man selbstredend noch auf Jahrzehnte sozialpsychologischer Forschung verweisen.
Social Media
Nun muss man anerkennen, dass die Autorinnen eine noch relativ neue Kommunikationsarena betrachten und beleuchten: Social Media. „Insbesondere soziale Medien stellen einen Nährboden für toxische Positivität dar, da sie Plattformen bieten, auf denen Menschen sich über Probleme austauschen, Netzwerke bilden und Informationen suchen.“ Das ist definitiv richtig erkannt. Und es gibt auch schon starke politische Initiativen, diese „Brainwashingmaschinen in den falschen Händen“ (mein Ausdruck) zu regulieren. Die Autoren zitieren wenige wissenschaftliche Studien, die diese Aussage unterstützt. Da hätte man leicht mehrere dutzend hochkarätige Studien finden können. Die Schlussfolgerung, die sie ziehen, unterstreicht, was sie auch schon bei der Betrachtung toxischer Kommunikation in Unternehmen beobachtet haben: „Im Ergebnis wird die Schuld an einer ausbleibenden Verbesserung der Probleme auf den Betroffenen verlagert.“
Es rastet also der sogenannnte fundamentale Attributionsfehler ein: Es liegt an mir, nicht an den Verhältnissen. Ich bin zu unwissend, zu uninformiert, habe zu wenig Zeit, um mich schlauer zu machen. Also vertraue ich den Lautsprechern und Besserwissern auf Social Media und überschätze deren Kompetenz und Menschenfreundlichkeit, verkenne oder unterschätze deren potenziell wirtschaftlichen (oder politischen) Interessen. Social Media sind eben keine „geborenen“ selbstlosen Aufklärungsplattformen. Ihre Algorithmen verstärken gnadenlos Vorurteile und Interessen: „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ – nennt man das oder: Matthäus-Effekt. Viele Menschen sind zu unwissend und naiv, um das in seiner brutalen Konsequenz zu verstehen.
Hinzu kommt, so die Autoren, ein totalitär auftretendes Happiness-Diktat in der Social-Media-Kommunikation. Und nicht nur dort. Man könnte es auch – über die Diagnose der Autoren hinausgehend – einen (emotionalen) Kulturstandard nennen. Lisa Feldman Barrett beschreibt diesen ausführlich in ihrem Buch (Emotionen: Gefühlsduselei vermeiden). Es ist ein westlicher, insbesondere US-amerikanischer Standard. Es wird explizit auf positive Gefühle fokussiert, negative Gefühle werden heruntergespielt und unterdrückt und ideologisch verbrämt. Was man auch witzig auf den Arm nehmen kann (Always look on the bright side of life).
Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen
Auch so ein Spruch: Wer aber Probleme leugnet, läuft leicht in eine Sunk Cost Fallacy hinein. Statt umzukehren aus der Sackgasse, wirft er gutes Geld dem schon verbrannten hinterher. Vor einigen Jahren hat der inzwischen verstorbene BWL-Altmeister Georg Schreyögg diese Falle und damit zusammenhängende weitere Phänomene genüsslich unter der Überschrift „Pfadabhängigkeit“ als „Sackgasse“ beschrieben.
Die Verleugnung von Problemen hat nun auch Auswirkungen auf den Einzelnen. Das wird schon seit den 1990er-Jahren unter der Überschrift Emotionsarbeit adressiert, wie die Autoren richtig bemerken, aber leider nur oberflächlich ausführen. Insbesondere in der Dienstleistungspsychologie (Qualität der Dienstleistung ‚Coaching‘) ist schon lange bekannt, dass das Unterdrücken negativer Emotionen und ein aufgesetztes Lächeln (an der Frontline zum Kunden, im Call-Center etc.) zu einer emotionalen Diskrepanz führen, die signifikant Burnout begünstigt. Das aufgesetzte Lächeln (surface acting) ist also kontraproduktiv und produziert schädliche Nebenwirkungen.
Als Lösungsstrategie wird in der Dienstleistungspsychologie deep acting empfohlen. Der Dienstleisterin wird empfohlen, sich nicht nur mit Entspannungsverfahren zu beschäftigen oder sich mental in schöne Umgebungen zu versetzen, um die emotionale Diskrepanz abzumildern. Besser wäre noch, die erlebte Situation mittels Reframing aktiv umzudeuten. Und zwar so, dass das erwünschte Gefühl sich kongruent einstellt. Ein Beispiel: Junge männliche Fluggäste begegnen der Flugbegleiterin morgens früh im Flieger unangemessen. Die Flugbegleiterin wertet die Situation für sich so um, indem sie denkt: „Ihr armen Industriesklaven wollt jetzt eure Frustration an der vermeintlich subalternen ‚Saftschubse‘ ablassen? Ihr tut mir echt leid!“ Sogleich entsteht ein mitleidiges, kongruentes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie kommt aus der Opferrolle heraus und gestaltet aktiv – zu ihrer eigenen Gesundheit.
Das Autorenteam spricht stattdessen in diesem Zusammenhang lediglich von mangelnder Authentizität und nachlassender Bindung (Commitment) der Mitarbeitenden, so dass eine Parallelkultur entstehe: „Es entsteht ein Klima der oberflächlichen Höflichkeit, in dem echte Probleme nicht angesprochen werden und Mitarbeitende ihre Unzufriedenheit nicht offen äußern.“
Ratschläge
Die Autoren verweisen auf die Rolle der Führungskräfte in dieser Situation. Sie sollten emotionale Intelligenz entwickeln und Empathie. Man sollte den Mitarbeitenden Unterstützung anbieten und „sie dazu zu ermutigen, ihre Bedenken und konstruktive Kritik zu äußern“. Selbstverständlich gehöre auch psychologische Sicherheit dazu – und regelmäßige Feedbackgespräche.
Damit machen es sich die Autoren leider viel zu einfach. Hier braucht es einen kulturellen Wandel. Und das braucht Zeit. Nicht zu vergessen ist hier auch, dass es sich um ein Machtgefälle handelt. Mitarbeitende, die immer wieder erlebt haben, wie ihre Bedenken und Einwände vom Tisch gefegt wurden, sind frustriert, demotiviert und in der Regel defensiv. Sie fühlen sich von ihren Führungskräften allein und im Stich gelassen. Warum sollten sie denen plötzlich aus heiterem Himmel glauben, dass sie im Feedbackgespräch konstruktive Kritik hören wollen? Wenn sie dann auch noch von psychologischer Sicherheit flöten, für die sie in der Vergangenheit auch Nullkommanix getan haben? – So simpel, wie sich das unser Autorenteam macht, kommt man aus einem organisationalen Double Bind nicht heraus.
Hier wird man – um mit Bateson zu sprechen – auf die Metaebene gehen müssen. Vermutlich braucht es, wenn man nicht rechtzeitig umgeschenkt hat, eine Krise der Unternehmung, die nicht zu übersehen ist, Druck von oben, aus dem Aufsichtsgremium oder von mächtigen Stakeholdern, eine kollektive Revolte der Mitarbeitenden vielleicht – und kompetente, externe Berater (Teure Nachhilfestunde), die das Problem verstehen und geeignete Maßnahmen kennen. Vielleicht wird man auch vor personellen Konsequenzen nicht zurückschrecken dürfen und sich von einigen uneinsichtigen Schindern und Schleifern in der Führungsfunktion verabschieden müssen. Und vielleicht haben die positiv denkenden Potenzialträger im Führungsamt das Unternehmen auch längst verlassen? Weil sie keinen Sinn mehr gesehen haben, in einem Unternehmen zu arbeiten, das zum Durchlauferhitzer degeneriert ist. Der Turnaround der in solch einem düsteren Fall anstehen dürfte, könnte gewaltige Ausmaße annehmen und gravierende Konsequenzen erforderlich machen. Die schlauen Ideen der Autorinnen jedenfalls werden nicht ausreichen.