KRITIK: Unter uns sollen vielseitig begabte Menschen leben, die neugierig und kreativ sind. Aber leider dazu neigen, sich zu verzetteln. Was tun, wenn ein solcher Tausendsassa ins Coaching kommt? Na, sich auf ihn einstellen, nicht wahr?
Dass es solche Menschen gibt, so wie es eben auch andere gibt, sei unbestritten. Leider erschließt sich mir nicht, warum man dann einen solchen Bohei um sie macht und sie „Scanner-Persönlichkeiten“ nennen muss: Weil sie vielfältige Interessen haben, neugierig sind und lernbereit, hinzu kommt eine schnelle Auffassungsgabe und Kreativität. Nur weil das halt vor Jahren mal eine Karriereberaterin, Barbara Sher, nach Deutschland gebracht und veröffentlicht hat?
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Zweifelhaftes Konzept
Ich meine, da draußen auf dem Markt laufen viele Leute rum, die sich besonders pfiffig finden und ihr Umfeld mit Buzzwords und selbstgestrickten Konzepten heimsuchen. Das ist das eine. Wenn dann allerdings Wissenschaftler, in diesem Fall eine Professorin für Coaching, solche Konzepte aufgreift (Vielbegabte im Coaching), sollte man erwarten, dass sie das theoretisch fundiert, kritisch, differenzierend und evidenzbasiert macht.
Macht sie aber leider nicht. Und das ist ein Skandal! Es hätte auf der Hand gelegen, das Thema persönlichkeitspsychologisch anzugehen. Beispielsweise mit den Big-5. Da hätte man sogleich ein Diagnostikschema an der Hand. Naheliegend wäre auch der Zugang über die Intelligenz (Inkompetenzkompensationskompetenz). Dann hätten wir mit dem Konzept der Hochbegabung eine solide Diskussionsbasis. Bei MWonline hatten wir zum Thema vor einiger Zeit einen interessanten WebTalk (Hochbegabte: Seismograf für gute Führung?!).
Tausendsassa
All das nimmt die Autorin nicht in den Blick. Stattdessen wird schnell klar, die Dame hat selbst ein Tausendsassa-Buch veröffentlicht und zitiert sich mehr oder weniger nur selbst. Und was sie dann an Problemen dieser Tausendsassa-Klientel aufzählt – Priorisierungsschwierigkeiten, Entscheidungsprobleme, Jobunzufriedenheit, Selbstzweifel, Überforderung – kennt man das von anderen Menschen nicht auch? Was der Coach da an Haltung und Kompetenzen mitbringen soll, um diesen Menschen gut helfen zu können, liest sich dann auch so banal, dass es auf alle möglichen anderen Fälle auch passen könnte.
Der Hinweis auf Stärkenorientierung, Leidenschaft und Resilienz darf nicht fehlen: Da werden doch alle nicken … Es fehlt aber der Blick auf den Kontext, die Verhältnisse, in denen diese angeblichen Vielbegabten sich tummeln. Coaching wird mal wieder auf individuelle Probleme enggeführt. Wie schade und dysfunktional.
Der Beitrag ist in meinen Augen nichts weiter als schön gestyltes Marketing. Auf die Idee, dass die Dame sich intensiv mit Neuropsychologie beschäftigt hat, wäre ich nie gekommen. Weil man davon im Text eben auch gar nichts merkt.