Kritik: Die wissenschaftliche Strategie lautet: Zerlege alles in seine Einzelheiten, um es zu erkunden und zu verstehen. Man nennt es Analyse. Und so reißen die Forscher der Fliege ein Bein nach dem anderen aus.
Wie das geht, warum das eine interessante, aber letztlich unabschließbare Aktion ist, und warum damit nicht so viel gewonnen ist, erschließt sich schon kleinen Kindern, wenn sie versuchen, der Fliege das Bein wieder anzukleben. Was der Versuch einer Synthese wäre. Viel gründlicher, spitzfindiger und erhellend hat das vor vielen Jahren schon der Philosoph und Hippie-Kultbuchautor Robert M. Pirsig in seinem lesenswerten und unterhaltsamen Buch (Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten) beschrieben.
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Kleines Experiment gefällig?
Wie schaffe ich nun, so wird sich die eine oder der andere Leser:in an der Stelle fragen, die Kurve zum Beitrag von Autor Uwe Peter Kanning (Soziale Kompetenzen: Wie viel und welche benötigen Führungskräfte?) zu nehmen? Kleines Experiment gefällig? Fragen Sie doch einmal eine Kollegin oder einen Kollegen, was Kompetenzen sind. Nur zu! Es gibt keine dummen Fragen … Wenn ich meine Studierenden frage, kommt da zunächst einmal ganz viel in Richtung: Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten. Fachkompetenzen also. Wenige Gewitzte verweisen schon schnell darauf, dass es da auch noch Sozialkompetenzen gibt. (N.B.: Selbstkompetenz kennen die wenigsten).
Sehr gut, sage ich, und bohre weiter. Und was sind Sozialkompetenzen konkret? Na ja, dass man gut mit anderen auskommt. Dass man empathisch ist. Dass man moderieren und auch Streit schlichten kann. So langsam verebbt der Ideenreichtum. Rollensensibilität, Führung, Kultur – solche Stichworte höre ich praktisch nie. Nun zu Ihnen: Was haben Sie an Antworten von Ihren Kolleg:innen bekommen?
Interessant, nicht wahr? Tagtäglich geht man mit solchen Begriffen um, doch wenn der Frosch das Wasser lassen soll, wird es oft eng. Was macht nun der Wissenschaftler an der Stelle? Er befragt viele Zeitgenossen, was Ihnen dazu einfällt (induktives Vorgehen) und er bündelt die Ergebnisse zu logischen Gruppen, bastelt sich ein Modell (deduktives Vorgehen). So auch Autor Kanning. In dem Modell, das er vorstellt, gibt es vier große Gruppen:
- Soziale Orientierung: Prosozialität, Perspektivenübernahme, Wertepluralismus, Kompromissbereitschaft, Zuhören
- Offensivität: Durchsetzungsfähigkeit, Konfliktbereitschaft, Extraversion, Entscheidungsfreudigkeit
- Selbststeuerung: Selbstkontrolle, Emotionale Stabilität, Handlungsflexibilität, Internalität
- Reflexivität: Selbstdarstellung, direkte Selbstaufmerksamkeit, indirekte Selbstaufmerksamkeit, Personenwahrnehmung
Was will uns der Autor sagen?
Na, wer hätte das gedacht? Hier kommt jetzt „Butter bei die Fische“! Hier wird differenziert. Wunderbar! Doch nach ein wenig Nachdenken wird sicher die eine oder der andere nachfragen: Was genau meint XY? Nun, Autor Kanning erklärt das natürlich im Beitrag. Aber ich bin sicher, das reicht nicht. Denn – Sie kennen das von kleinen Kindern – und die Kolleg:innen können das auch: „Papa, was ist ‚indirekte Selbstaufmerksamkeit‘?“
Das Aufdröseln des Konzepts, das Fragen findet kein Ende. Meine Mutter gab gerne diese Pointe zum Besten, dass wenn sie dann am Markt angekommen war, sie nicht mehr wusste, was sie einkaufen wollte – vor lauter Fragen ihres Sohnes. Autor Kanning lässt sich nicht so leicht in den Wahnsinn treiben, was ich ja auch gar nicht beabsichtigen würde (dazu lese man das Buch von Robert Pirsig). Kanning stoppt einfach den Regressus ad infinitum: „Bei jeder der 17 genannten sozialen Kompetenzen ist es plausibel, dass Führungskräfte von ihr profitieren können.“ So, so.
Items plus Skalierung = Fragebogen
Was fehlt jetzt noch: Natürlich eine Skalierung. Kanning wartet mit einer neunstufigen auf, ohne zu erklären, warum nicht auch vier Stufen reichen würden. Und er gibt auch keinen Hinweis, ob ein Summenscore zulässig ist. Aber eines muss man ihm lassen: Der Personaldiagnostiker widersteht der Versuchung, eine maximale Ausprägung der 17 Kompetenzen als wünschenswert zu propagieren. Sozusagen die eierlegende Wollmilchsau. Warum? Na, weil doch der Kontext situativ immer anders ist. Also je nachdem sind spezifische Kompetenzen wichtiger als andere.
So bliebe jetzt nur noch eine Unstimmigkeit zu klären: Wenn Kompetenzen Dispositionen selbstorganisierten Handelns sind, wie seinerzeit schon Lutz von Rosenstiel und John Erpenbeck definierten (Handbuch Kompetenzmessung), dann sind sie nicht identisch mit Persönlichkeitseigenschaften. Wenn wir in Kannings Modell die Kompetenzen Extraversion und Introversion finden, denken wir selbstverständlich an solche, situationsübergreifenden, ziemlich unveränderlichen Persönlichkeitsmerkmale. Das ist ein Widerspruch. Es wäre doch zu klären, wie man Kompetenzen erwerben, ausbauen und pflegen kann. – Das weite Terrain der Personalentwicklung. Vielleicht macht er uns demnächst einmal schlauer …
Immer erfrischend zu lesen!