REZENSION: Peter Wyss – Hierarchiefrei ist besser. Mit FLOW-Kultur zum Management auf Augenhöhe. Vahlen 2020.
Als ich den Titel las und vor allem den Untertitel, dachte ich: Ach ja, noch ein Management-RezeptBUCH zu mehr Selbstorganisation. Und vermutlich läuft es am Ende darauf hinaus, dass hierarchiefrei zwar schön wäre, aber es ohne Führungskräfte dann doch nicht geht. Aber der Autor argumentiert tatsächlich radikal und schafft Führung durch Führungskräfte ab. Mit jeder Menge praktischer Beispiele und Erfahrungen.
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Und so war mein zweiter Gedanke schon in dem einleitenden Kapitel: „Hätte ich genauso schreiben können!“ Wobei mir die Akribie und Geduld fehlt, die Argumente auf diese Weise zu untermauern. Sie sind mir aber wohl vertraut und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie es zu dem Buch gekommen ist. Die Kernfragen lauten: Wozu brauchen Menschen am Arbeitsplatz einen Chef, wenn sie nach Feierabend eigenständig Entscheidungen treffen können? Warum sollten diejenigen die Entscheidungen treffen, Meetings leiten, andere Menschen beurteilen, nur weil irgendjemand irgendwann ihnen einen Titel verpasst hat? – Da muss doch schon der gesunde Menschenverstand einschreiten und erklären, dass ein Mensch allein gar nicht in all diesen Dingen der geeignetste sein kann.
Die Nachteile der Hierarchie
Es folgen viele Belege für die Nachteile der Hierarchie, unter anderem auch, dass sie viel zu langsam ist. Ich staune auch immer wieder, wenn ich höre, dass man Führungskräfte benötigt, damit man schneller zu Entscheidungen gelangt. Die Praxis in Unternehmen zeigt doch, wie bürokratisch es mit all den Ebenen zugeht, bis endlich jemand eine Entscheidung fällt. Hier wird auch erklärt, warum sich auch viele der „Geführten“ nicht vorstellen können, auf ihre Chefs zu verzichten – weil sie so konditioniert wurden. Wie der Elefant an der dünnen Leine sich nicht losreißt. Das sollte man mal mit einem in Freiheit lebenden Tier probieren.
Womit das Bild des Zoos eingeführt wird, der, egal wie großzügig er angelegt ist, niemals artgerechte Haltung ermöglicht. Entsprechend werden Organisationen mit klassischer Hierarchie auch keine „artgerechte“ Menschenhaltung möglich machen.
Dazu passt eine schöne Metapher. Mir begegnet auch immer wieder das Argument: Es gibt Menschen, die wollen gar nicht selbstständig handeln und entscheiden. Die Antwort des Autors darauf: Wir vermuten das, weil wir sie nur im Zoo beobachten. So wie den Gepard, den man noch nie hat rennen sehen und wir uns daher ganz sicher sind, dass er nicht rennen kann.
Exkurse in die Geschichte
Spannend finde ich die Ausflüge in die Historie, vor allem den Vergleich mit Regierungssystemen. Der Autor ist Schweizer und erläutert das Prinzip der direkten Demokratie im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie. Letztere ist eine „Konkurrenzdemokratie“, bei der es eine Regierung und eine Opposition gibt, und bei der es dank klassischer Abstimmung immer Gewinner und Verlierer gibt. Im Gegensatz dazu steht die „Konkordanzdemokratie“, bei der es darum geht, sich auf gemeinsam getragene Entscheidungen zu verständigen.
Womit wir bei dem neuen „Mindset“ sind, das von einem gleichberechtigten Miteinander aller Mitglieder in einer Organisation ausgeht. Es kommt in dem erwähnten „FLOW-Prinzip“ zum Ausdruck, die Buchstaben stehen für Freiheit, Leichtigkeit, Offenheit und Wirksamkeit. Es wird im zweiten Teil des Buches ausführlicher dargestellt zusammen mit einer strukturierten Vorgehensweise mit 15 Praktiken und 10 Schritten zur Einführung. Alles kein Hexenwerk und vertraut, aber es wird auch deutlich, dass all das nur Sinn ergibt, wenn es von der Spitze wirklich gewollt wird.
Anschließend begegnen uns viele bekannte Beispiele, von FAVI über Buurtzorg, Semco, Svenska Handelsbanken, W. L. Gore, Morning Star, Southwest Airlines und etliche kleinere Unternehmen.
Was deutlich wird
Zwei Dinge werden – neben der bekannten Forderung, dass ein solcher Wandel von oben gewollt und ernsthaft vorgelebt werden muss – sehr deutlich: Es ist möglich, auch nur Teile dieses neuen „Mindsets“ einzuführen, indem man als Eigentümer bzw. Führungskraft auf „Macht“ verzichtet und Eigenverantwortung zulässt. Das kann praktisch jede Führungskraft in ihrem Umfeld umsetzen. Aber so ein Modell steht auf extrem wackeligen Füßen, denn mit jedem Wechsel an der Spitze kann alles wieder rückgängig gemacht werden, wie einige bittere Beispiele in dem Buch zeigen. Ein bisschen so, als würde man im Zoo einige Türen öffnen beziehungsweise einige Gehege drastisch erweitern, den Tieren deutlich mehr Raum geben und sie beim ersten „Unglück“ wieder schließen mit der Begründung: Habe ich doch gleich gewusst – klappt nicht!
Zum anderen: Konsequent und damit der vermutlich einzig mögliche unumkehrbare Wandel kann nur gelingen, wenn man das Thema Eigentum anpackt. Auch diesem widmet der Autor ein Kapitel, das leider nur sehr kurz ist. Vermutlich, weil nur wenige Unternehmer einen von drei möglichen Wegen konsequent gegangen sind, die da lauten: Gemeinnützige Stiftung, Genossenschaft oder Übergabe des Unternehmens an die Mitarbeiter. Wobei man sich fragen kann, warum bestehende Genossenschaften und Stiftungen nach dem klassischen Zoo-Paradigma geführt werden.
Ansonsten habe ich viel Freude gehabt beim Lesen der Antworten auf die typischen Einwände gegen die Abschaffung der Hierarchie in den Kapiteln „Gegenargumente und Kritikpunkte“ und „Fragen und Antworten“ sowie den Berichten über eigene Erfahrungen des Autors, die ich wunderbar nachempfinden kann. So wie mir das ganze Buch einfach gut tat – mit einer Einschränkung: Ich fürchte, dass trotz all der Belege und nachvollziehbaren Argumente die beschriebenen Rückschläge und die nach wie vor sehr spärlichen erfolgreichen Beispiele die Skepsis bei denjenigen, die die Macht hätten, Hierarchien abzuschaffen, eher vergrößern. Bei mir haben sie eine Haltung von „Und es geht doch!“ verstärkt.