KRITIK: Dass Persönlichkeitstypen-Tests Mumpitz sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Als wissenschaftliche Alternative wird das Big-Five-Modell gehandelt. Doch ob das der Weisheit letzter Schluss ist?
Zuletzt hörte man immer wieder, und da reiht sich die Interviewte, eine Psychologie-Professorin, ein (Sinnvolle Selbstentwicklung?): So stabil, wie man lange dachte, sind die Persönlichkeitsmerkmale der sogenannten Big 5 nicht. Sie lassen sich im begrenzten Rahmen verändern. Diese Botschaft ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Persönlichkeitstrainer und -coaches. Denen hatte man doch immer einen Kosmetikerinnen-Job unterstellt: Überteuerte Creme, die nichts bringt. – Jetzt also doch?
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Die Forscherin selbst konnte zeigen, „dass einschneidende Lebensereignisse wie der erste Job mit Veränderungen in den OCEAN-Werten einhergehen.“ OCEAN ist ein Acronym der englischsprachigen Bezeichnungen der Big-5-Dimensionen: Offenheit für Erfahrungen (Openness), Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness), Extraversion (Extraversion), Verträglichkeit (Agreeableness) und Emotionale Stabilität (geringer Neuroticism). Vor allem psychotherapeutische Maßnahmen erhöhen offensichtlich emotionale Stabilität und Extraversion. Da fühlen sich die Hobbypsychologen vermutlich ermuntert, doch Gleiches zu versuchen.
Persönlichkeitsveränderung?
Doch Vorsicht! Experimente zur Persönlichkeitsentwicklung, von denen die Autorin berichtet, erinnern an eine selbsterfüllende Prophezeiung: Denn das Big-5-Modell basiert auf Selbstbeschreibung (Fragebogen). Wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist, malt man sich schnell ein rosarotes Bild. Soll man das ernst nehmen? Die Psychologin weist selbst auf dieses Problem hin und betont, dass man deshalb „objektive“ Daten benötigt, beispielsweise Fremdbeurteilungen.
Schade, dass sie nicht auf den neurowissenschaftlichen Kenntnisstand eingeht. Gerhard Roth und seine Schülerin Alica Ryba haben ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell der Persönlichkeit (vier Ebenen und sechs psycho-neurale Grundsysteme) vorgelegt, das offensichtlich noch nicht adäquat in der Persönlichkeitspsychologie rezipiert wurde (Coaching und Beratung in der Praxis). Schade.
Der Wunsch nach Selbstoptimierung
Ob die Masse solche Einschränkungen hören möchte? Das Erleben von Minderwertigkeit und der Wunsch nach Selbstoptimierung ist stark ausgeprägt in der Spezies der Homo sapiens sapiens. Früher waren es die Tulpenzwiebeln, später die Magic Mushrooms und seit einigen Jahren sind es die Coaches, die von der offensichtlich maßlosen Erlösungsbedürftigkeit der Menschen leben – und nur eine überschaubare Gruppe der Coaching-Anbieter, die Professionellen, haben sich einem anspruchsvollen Ethikkodex unterworfen.
Selbst das Big-5-Modell lässt sich für solche Zwecke instrumentalisieren. Ursprünglich wurde es als Aggregation von bipolaren Dimensionen konzipiert. Zwischen beispielsweise Introversion und Extraversion befindet sich ein abgestuftes Kontinuum. Definitiv ein Vorteil gegenüber den Typenmodellen, bei denen man entweder/oder ist. Dort gibt es keinen Graubereich. Doch mit der OCEAN-Klassifikation hat man die Wertung schon wieder durch die Hintertür importiert. „Warum wollen wir alle noch offener, noch gewissenhafter, nach extravertierter, noch verträglicher, noch emotional stabiler sein?“
Na, ist doch klar: Medien, Social Media, Casting-Shows – und selbstverständlich diverse Coaching-Anbieter, die davon leben, suggerieren jedem permanent, dass es da noch „Luft nach oben“ gäbe: Werde die bessere Alternative deines Selbst! Wie traurig, wenn du diesen Planeten verlassen musst, ohne das Beste gegeben zu haben! You only live once (YOLO). Die Psychologin weist auf die Schattenseiten dieser Geisteshaltung hin. Da werden Menschen, die mit sich unzufrieden sind, noch unzufriedener gemacht. Und da muss man selbstverständlich noch mal eine Stange Geld in die Hand nehmen … Allerdings: „Die Effekte gezielter Trainings sind in der Regel jedoch eher klein.“
Die Alternative: Stärkung des Selbstwerts
Die Interviewer fragen die Psychologin das Offensichtliche: „Sollte in der Persönlichkeitsentwicklung der Fokus mehr auf die Stärkung des Selbstwertgefühls gelegt werden?“ Das wäre in der Tat hilfreich, antwortet diese, bleibt dann aber doch eher oberflächlich. So dass ich mich gemüßigt sehe, den Irrweg einer einseitigen Auslegung von Persönlichkeitseigenschaften mit einem drastischen Beispiel zu konterkarieren.
Wer meint, dass Emotionale Stabilität nur gut sein könne, irrt. Man stelle sich vor, da soll jemand ein Schiff über den Atlantik schippern. Wer da immer gerade ausfährt und sich nicht von Treibgut irritieren lässt, spart Diesel und kommt auf schnellstem Wege an. Derselbe Mensch, neben dem im Bilde gesprochen die Bombe einschlagen kann, ohne dass es ihn aus dem Konzept bringt, wird in einer anderen Situation grandios scheitern. Man stelle ihn sich im agilen Wildwasser-Parcour vor. Statt den Hindernissen auszuweichen, fährt er stoisch auf Grund. Hier wäre der neurotische Kapitän, der das berühmt berüchtigte Gras wachsen hört, die bessere Besetzung. Es gibt keine optimale Persönlichkeitsausprägung per se. Es kommt auf den Kontext an, auch auf ein kluges Rollenmanagement im Arbeitsteam: „Ich bin so, wie ich bin, genau richtig da, wo ich bin. Eine Selbstveränderung ist also gar nicht nötig.“
Fokussierung auf Stärken
Ein weiteres Thema ist die Fokussierung auf Stärken. Auch hier bleiben die Ausführungen der Expertin leider eher blass. Das Instrument „Values in Action – Inventory of Strength (VIA-IS)“ ist ein Katalog von 24 Charakterstärken, den Peterson und Seligman entwickelt haben. Hiermit lassen sich ganz hervorragend eigene Stärken herausarbeiten – auch mithilfe von Fremdfeedback. Im lesenswerten Buch von Nico Rose (Management Coaching und Positive Psychologie) findet man dazu hilfreiche Erläuterungen und Anleitungen.
Zum Schluss versuchen die Interviewer der psychologischen Expertin doch noch ein paar Tipps zur Persönlichkeitsveränderung zu entlocken. Das alte, journalistische Spiel. Und sie liefert auch. Die Idee beispielsweise, die eigenen Ressourcen mittels Tagebuchführen bewusst zu machen. Hilfreich sei auch Feedback aus dem Familien- und Freundeskreis. Oder das Pläne schmieden (Wenn-dann-Pläne). Doch ich bedauere: Der Vergleich mit dem oben genannten neurowissenschaftlich fundierten Integrationsmodell der Persönlichkeit fällt schlecht aus für die Expertin. Wir sind längst weiter: Emotionen, Körperlichkeit und Verhalten müssen verschränkt werden, um tatsächliche und nachhaltige Veränderungen zu ermöglichen.
Schon die Alten wußten: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Soll heißen: Was wir als Kinder im kulturellen Umfeld gelernt haben, gebiert in der Regel stabile Werte. Jeder von uns steht in einer genetischen Abfolge, die keiner leugnen noch überwinden kann. Es sind die angeborenen Motive und Begabungen/Talente. Intelligenz gehört auch dazu.
Menschen zu diagnostizieren ist so alt , wie Menschen andere Menschen erkennen wollen. Alle Diagnoseinstrumente, die ich kennen, können nur eine begrenzte Antwort geben auf die Frage: Wer bist du? Einige sind besser als andere.
Ich habe gelernt, dass es wohl am Günstigsten ist, den Menschen in eine Selbstdiagnose zu bringen. Was er selbst feststellt kann unterschieden werden zwischen förderlich und hinderlich in spezifischen Kontexten.
In der Bibel gelingt es, aus einen Paulus einen Paulus zu machen. In der realen Welt kann kein Mensch an anderer werden. Die biologische Grundsubstanz bleibt, andernfalls raubt man dem Menschen seine Identität.
Dankeschön für die Zusammenfassung der neueren Forschungen rund um den BIG5. Wirklich sehr spannend. Bei den Ausführungen zum Thema: Durch welche Ereignisse können sich die BIG5 Faktoren verändern – hier beschrieben der erste Job – hat mich das zurückerinnert an meinen Einstieg ins Berufsleben. Da musste ich innerlich nicken und konnte das bei mir so auch bestätigen. Das war mir vorher so aber noch nie bewusst.