7. Juni 2025

Management auf den Punkt gebracht!

Emotionen: Gefühlsduselei vermeiden

REZENSION: Lisa Feldman Barrett – Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsere Emotionen. Rowohlt Polaris 2023.

Die althergebrachte Geschichte der Emotionen geht so: Wir alle haben Gefühle, die uns vom ersten Atemzug an begleiten. Sobald etwas in der Außenwelt passiert, melden sich auch schon unsere Emotionen schnell und automatisch, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt. Unser Gesichtsausdruck, unsere Stimme spiegeln diese Gefühle. Unsere Körperhaltung verrät unsere Emotionen mit jeder Geste, jeder hängenden Schulter. Die Gesamtheit dieser Bewegungen in und am Körper sind ein typisches Muster, das für bestimmte Emotionen einzigartig ist – wie ein Fingerabdruck. Und der ist von Mitmenschen klar zu verstehen.


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Jeder Emotion, so das neuzeitliche Update der klassischen Auffassung, entspricht ein ebenso klar definiertes Aktivitätsmuster in Gehirn. Weil unsere Emotionen Artefakte der Evolution sind. Sie gehören zu unserer biologischen Natur und sind im primitiven Teil des Gehirns, im sogenannten Reptiliengehirn lokalisiert. Deshalb sind Emotionen auch universell. Wir teilen sie nicht nur mit allen menschlichen Rassen, sondern auch mit Tieren. – Doch da gibt es noch eine Besonderheit: Menschen verfügen über Vernunft. Sie ist ein neuer Teil unseres Geistes und in der Großhirnrinde lokalisiert. Ihre Rolle ist, die Emotionen im Limbischen System zu regulieren. Und deshalb tobt da oft ein innerer Kampf zwischen unserem Oberstübchen und den animalischen Untiefen. Ohne die Ratio wären wir bloß ein emotionales Tier.

Mythos und Klischee

Das sind schöne Geschichten – und so richtig wie die Behauptung, jeden Morgen gehe die Sonne auf. Aus einer gewissen bodenständigen Perspektive heraus mag es plausibel erscheinen. Doch die Schlussfolgerung, die Sonne drehe sich um die Erde, ist, bewegt man sich mal ein paar Meter oberhalb der Grasnarbe, offensichtlich falsch. So auch die Sache mit den Emotionen. Schon im Kindergarten lernen wir diese Geschichten. Als Jugendliche entdecken wir die Macht der Emoticons und als Erwachsene belagern uns Rhetoriktrainer, um uns beizubringen, wie wir die Gefühlswelt unserer Mitmenschen präzise entschlüsseln können. Und dann ist da noch die Sache mit dem Lügendetektor: Alles Schmu? Größtenteils. Das meiste ist eine grobe Karikatur – und eine fatale Illusion.

Die renommierte Psychologin und Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett zeigt auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, dass solche populären Vorstellungen von Emotionen auf dramatische Weise veraltet sind – und dass wir einen hohen Preis dafür zahlen, wenn wir (weiter) naiv mit ihnen operieren. Die modernen Neurowissenschaften haben eben keinen Beweis für irgendwelche speziellen Emotionsschaltkreise im Gehirn finden können. Im Gegenteil: Nicht Eindeutigkeit, sondern Variation und Vielfalt sind die Regel.

Emotionen sind kein angeborenes Programm. Sie werden nicht automatisch in Situationen getriggert. Sondern vom Individuum aufgrund seiner spezifischen Erfahrung, seiner Lebensumstände und seiner Kultur aktiv erzeugt. Deshalb spricht Feldman Barrett auch von einer Theorie der konstruierten Emotion. Was sogleich Assoziationen zum Konstruktivismus weckt. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Wahrnehmung und Erinnerung – also Kognitionen – Konstruktionsleistungen des Gehirns sind. Doch Emotionen?

Auch Emotionen werden konstruiert

Lisa Feldman Barrett rechnet mit der klassischen Sichtweise auf Emotionen radikal ab. Sie macht das ausschweifend über fast 700 Seiten (inkl. langem Anhang und Fußnotenapparat). Das beinhaltet zahlreiche Redundanzen, so dass ich mir gewünscht hätte, sie hätte ihre Botschaft auf die Hälfte oder – noch besser – auf ein Drittel der Seiten komprimiert. Und doch stelle ich beim Lesen fest, dass die Redundanzen und die zahlreichen Beispiele wichtig sind, um die Botschaft nicht nur abstrakt zu verstehen, sondern auch wirklich nachdenklich zu werden.

Der klassischen Auffassung von Emotionen zufolge ist unser Gesichtsausdruck der Schlüssel, um Emotionen einzuschätzen (Mimikresonanz-Profibox). Das geht auf das biologische Denkmodell Darwins zurück. Paul Ekman postulierte dann in den 1980er-Jahren kulturübergreifend gültige Emotionen (Mehr als eine Pflichtlektüre). Dabei lässt sich diese Denkrichtung bis auf den griechischen Philosophen Platon zurückverfolgen. Der war der instrumentellen Ansicht, Worte seien wie Etikette, die man auf Dinge pappt. Man drehe den Satz um, und schon offenbart sich das Drama. In den Worten des neuzeitlichen Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen.“ Die Welt besteht dann bloß aus den benannten Dingen – den acht Basisemotionen Ekmans. Der Rest ist Schweigen, unsichtbar.

Ein fataler Kurzschluss. Ekman glaubte, die Emotionswelt mit Basisemotionen beschreiben zu können. Doch die Forschung fand heraus: Der Gesichtsausdruck ist variabel. Feldman Barrett: „Eine Emotion wie ‚Angst‘ kennt keinen einzigartigen Gesichtsausdruck, sondern ruft eine Reihe von extrem diversen Gesichtsbewegungen hervor, die sich je nach Situation unterscheiden.“ Wenn wir trotzdem einen Gesichtsausdruck als „Angst“ erkennen, dann liegt es daran, dass wir ein Stereotyp erkennen, eine Klischeevorstellung, die symbolhaft darstellt, was man in unserer Kultur für „Angst“ hält. Emotionen, so der Schluss, sind ein Produkt der Übereinkunft zwischen Menschen. Sie sind kulturelle Kürzel oder Konventionen. Was also in der einen Kultur als normal „gefühlt“ wird, muss in einer anderen nicht so verstanden werden. Und dafür liefert die Autorin einige spannende Beispiele.

Affektiver Realismus

Es ließen sich auch keine physiologischen „Fingerabdrücke“ von Emotionen finden (Puls, Blutdruck etc.). Dito gibt es auch kein Angstzentrum im Gehirn. Das Gehirn hat viele Möglichkeiten, Angst zu erzeugen, weil es ein hochkomplexes, chaotisches Netzwerk ist. Seine Aufgabe ist die Simulation und Vorhersage von Situationen, um dem Menschen ein optimales (Über-)Leben zu ermöglichen. Es reagiert nicht auf Reize, es prognostiziert diese zuvor. Dafür greift es auf Konzepte zurück, die zuvor gelernt wurden. Emotionen sind solche Konzepte. Sie sind in einem bestimmen sozialen Kontext entwickelt worden, weil sie sinnvoll und nützlich waren. Das Gehirn weist damit beispielsweise körperlichen Empfindungen oder sozialen Situationen Bedeutung zu.

Das ist zunächst einmal nützlich. Dabei geschehen aber oft Trugschlüsse. Erlebt man Affekte, ohne deren Ursache zu kennen, nimmt man diese gerne als Informationen über die Welt wahr – statt als körpereigene Sensationen, die andere Gründe haben können (z.B. Erkältung). Wir bezeichnen beispielsweise jemanden als „böse“, statt unsere Wahrnehmung zu schildern und unsere Interpretation zu äußern. Die Wissenschaft nennt das „affektiven Realismus“. Man fühlt, was das Gehirn glaubt. Wir konstruieren die Umwelt, in der wir leben, nicht bloß kognitiv, sondern gleichfalls emotional.

Schnell erliegen wir solchen Missverständnissen. Eine große Bandbreite an potenziellem Erleben wird reduziert, indem wir es auf eine schmale Anzahl an Schubladen verteilen: Die acht Basisemotionen nach Ekman. Reim‘ Dich oder ich fress‘ Dich! Emotionen werden vorschnell zu persönlichen Eigenschaften kategorisiert. Wenn das nicht schon schlimm genug wäre, wir blenden dabei weite Teile der Wirklichkeit aus: Unsere aktuelle körperliche Befindlichkeit und die soziale Situation, in der wir uns befinden. Mal abgesehen von der Kultur, in der wir leben wie der Fisch im Wasser, und die uns zumeist völlig unbewusst ist.

Im aktuellen Erleben kommen interozeptive Informationen, wie fühlt sich mein Körper an, Wahrnehmungen sozialer Realitäten und sprachliche Vermittlungen zusammen. Das Gehirn bastelt sich damit innerhalb von Sekundenbruchteilen Bedeutung zusammen. Diese erlernten Konzepte sind jedoch nicht statisch, sondern flexibel und situationsabhängig. Sie werden zielorientiert konstruiert. Und sie sind an Sprache und Kultur gebunden. Problem: „Unglaubliche 50 Prozent der Worte, die wir hören, können ohne Kontext (also isoliert gesprochen) nicht verstanden werden.“ Der Gebrauch der Sprache suggeriert im Umkehrschluss, dass es das, was wir benennen können, beispielsweise eine Emotion wie Angst, auch tatsächlich gibt. Doch manche Konzepte gibt es nicht wirklich, sie sind abstrakte Konstruktionen wie „Obst“.

Emotionale Granularität

Was können wir also lernen aus dieser neuen Sichtweise auf Emotionen? Vom deutschen Kabarettisten Heinz Erhardt (1909-79) stammt das Zitat: „Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken!“ Wir können ergänzen: oder fühlen. Das bedeutet, wir müssen viel differenzierter mit unserem Erleben umgehen. Lisa Feldman Barrett nennt das „emotionale Granularität“ und meint damit die Fähigkeit, das eigene Erleben und die Wahrnehmung der Welt zu präzisieren und auf spezifische Situation abzustimmen. Und auch zu hinterfragen. Beispiel: Ist das wirklich Hass, was mir da vonseiten meines Kommunikationspartners entgegenschlägt? Was wäre, wenn es bloß sein extremer Versuch wäre, seinen eigenen Selbstzweifel durch eine extrem einseitige Position aggressiv zu kaschieren? Oder wenn meine Wahrnehmung weniger mit ihm als mit mir zu tun hätte? Weil ich mich gerade eher unwohl und schwach fühle?

Der Schlüssel zu höherer emotionaler Kompetenz, so die Autorin, ist also die Ausbildung neuer Emotionskonzepte und die Verfeinerung der vorhandenen. Durch Perspektivenwechsel, Ortswechsel, durch Reframing, durch Humor … (Emotionale Kompetenz trainieren). Eine solche Haltung, die automatische Reiz-Reaktionsverschaltungen zu unterbrechen versucht, und anregt, forschend neugierig zu bleiben – vielleicht ist alles ja auch ganz anders? – ist systemisch denkenden Menschen hinlänglich bekannt. Sie wäre folglich bewusst auf das Emotionale zu generalisieren.

Das markiert den Unterschied zwischen einer unangenehmen Empfindung und Leiden, so die Autorin. Die unangenehme Empfindung ist rein körperlich. Das Leid ist persönlich. – Wir sollten uns folglich darin schulen, Erlebtes weniger persönlich zu nehmen. Sie nennt das Dekonstruktion: Lassen Sie sich nicht von einem spontanen Gefühl den Blick auf die Welt diktieren! Rekategorisieren Sie Ihr Erleben. „Ihre Gefühle sind vielleicht einfach nur bedeutungsloses Rauschen, und Sie brauchen möglicherweise nur ein wenig Schlaf.“ Und es verwundert nicht, dass sie zur Achtsamkeitsmeditation rät, um mehr Abstand zu bekommen. Um unsere emotionale Wahrnehmung zu verbessern, sollten wir die Fiktion aufgeben, wir wüssten, wie andere Menschen sich fühlen. Besser wäre, neugierig zu sein und zu bleiben auf die Erfahrung eines Gegenübers. Und in den Dialog zu gehen.

Bloß nicht alles glauben, was man fühlt

Auf etliche Themenfelder des Buchs will ich nun nicht weiter eingehen: Konsequenzen für den Krankheitsbegriff, die fatalen Folgen der klassischen Sichtweise für das juristische System, die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren … Die Autorin beackert ein weites Feld. Ihre Botschaft ist dabei nicht wirklich neu. Luc Ciompi hat schon in den 1990er-Jahren hellsichtig über die emotionalen Grundlagen des Denkens veröffentlicht. Die Embodiment-Forschung (Die Rückkehr der Gefühle), die maßgeblich die Entwicklung des Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®) beeinflusst hat, ist hierzulande auch schon über 20 Jahre bekannt. Und auch international wurden bereits aufsehenerregende Veröffentlichungen publiziert (4 Irrtümer über nonverbale Kommunikation).

Und doch fehlt noch der breite Durchbruch dieses Denkens im Publikum. Lisa Feldman Barretts Buch kann das in seiner barocken Erzählfreude vielleicht erreichen – wie schon erste Adaptionen hoffen lassen (Zwei menschliche „Betriebssysteme“?). Wenn man sich nicht vom Umfang des Buchs abschrecken lässt. Die Lektüre lohnt allemal.

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Thomas Webers

Dipl.-Psych., Dipl.-Theol., Fachpsychologe ABO-Psychologie (DGPs/BDP), Lehrbeauftragter der Hochschule Fresenius (Köln), Business-Coach, Publizist

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